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H.o.m.e


 


 
P o l i t T e x t e  |  Textur  |  14 10 2001
 
MV
Pazifismus, deutsche Sekundärtugend?
 
In der Leipziger Nikolaikirche sagte R. gestern u.a.: "Wir müssen Gerechtigkeit und Frieden notfalls dort auch mit militärischen Mitteln durchsetzen, wo sie durch Gewalt bedroht sind und wo der Dialog verweigert wird."
Eine stupende Verharmlosung von High-Tech-Schlächterei im Jargon evangelischer Akademien, wie sie so nur die Nr. 1 hinbringt. Selbst in einer Partei, deren Funktionsträger heute gar nichts mehr repräsentieren, ausser der gegelten Verhöhnung aller ihrer emanzipatorischen Traditionen. Dass aber die SPD mit staatlich organisiertem Massenmord kein Problem hat, solange es einem guten Zweck dient, ist seit 1914 bekannt. Insofern fiele im Augenblick geistiger Mobilmachung die Obszönität des R. nicht weiter auf. Wenn man sich nicht erinnerte, dass R., lange bevor er von seinem Verein nach Bellevue verklappt wurde, in zweiter Reihe an einer westdeutschen Episode mitgewirkt hat, die zeithistorisch recht belanglos, im Hinblick auf die Beweggründe manches deutschen Pazifisten jedoch aufschlussreich ist.

Oktober 1951, Regierungskrise: Gustav Heinemann [CDU] tritt vom Amt des Bundesinnenministers zurück, als bekannt wird, dass Kanzler Adenauer den Westmächten ohne Wissen des Kabinetts einen bundesdeutschen Wehrbeitrag angeboten hat - Wehrbeitrag, so bescheiden mussten die Deutschen damals noch tun, sechs Jahre nach Ende des Vernichtungsfeldzugs im Osten. Heinemann weiss, dass mit einer Remilitarisierung Westdeutschlands sein Traum einer Wiedervereinigung in blockfreier Neutralität begraben wäre. Kurz darauf gründet Heinemann die "Notgemeinschaft für den Frieden Europas", tritt im folgenden Jahr aus der CDU aus und tut sich mit der von der Zentrumspartei kommenden Helene Wessel zusammen. Das, was dem vaterländischen Pazifismus der überwiegend aus dem bürgerlich-protestantischen Milieu stammenden Dissidenten eine politische Fom geben soll, nennt sich ab 1952 offiziell "Gesamtdeutsche Volkspartei" [GVP].
 
Drei Tage nach der Gründung, am 2. Dezember 1952, tritt ihr der einundzwanzigjährige Wuppertaler Buchhändler, Journalist und Predigersohn R. bei und wird umgehend zum Kreis- und Ortsvorsitzenden seiner Geburtsstadt befördert. In den nächsten Jahren hat der junge Mann kaum Gelegenheit, unangenehm aufzufallen. Seine Partei wird bei den Bundestagswahlen 1953 - die Leute haben andere Sorgen - mit 1,2% abgewatscht und kommt auch danach über den Status der Splittergruppe nicht heraus.

Ab 1956 werden in der BRD wieder junge Männer zum Kriegsdienst gezwungen, 1957 ergeht von der demoralisierten GVP-Führung folgerichtig der Selbstauflösungsbeschluss, verbunden mit der Empfehlung an die überschaubare Schar der Anhänger, sich bei der SPD umzusehen.
 
Dem GVP-Kommando gelingt es in der Folgezeit, die angesichts der monolithischen Herrschaft des alten Rhöndorfers sturmreife und -willige SPD zu unterwandern. 1959 schmeissen die Sozen in Godesberg den Restmarxismus über Bord, werden Partei des Volkes und machen später Heinemann, als dessen "Ziehsohn" R. sich gern bezeichnet, zum Präsidenten.

»... dass der Pazifismus in Deutschland oft nur die selbstgerechte Bemäntelung des patriotischen Stumpfsinns« ...

Die SPD wird Regierung, und die ehemaligen GVPler mischen kräftig mit. Auf den Pazifimus kommt es für den Augenblick zwar nicht mehr richtig an, aber dass sie ihr Vaterland immer noch am liebsten ungeteilt sähen, beweisen sie mit der SPD nach Kräften. Sie reichen allen Deutschen die Hände und lassen, trotz schwerster Prügel von Bild und CDU, nicht wieder los: Eine Hand für ehemalige Antifaschisten wie Walter Ulbricht, eine Hand für ehemalige SS-Offiziere wie Hanns-Martin Schleyer. Dieser Spagat ist manchen dann doch zu weit. Ab 1980 verläuft sich der vaterländische Pazifismus in die Grünen hinein. Denen ist, in schöner Tradition, die gesamtdeutsche Vorbildlichkeit im Grunde so wichtig, dass sie den NATO-Austritt als Beigabe gern mitnehmen wollen. Oder was hatte es zu bedeuten, dass Petra Kelly zu Erich Honecker fuhr, um an der Kaffeetafel deutschen Separatfrieden zu schliessen? Und was sagt uns in der Rückschau die Emphase, mit der Ost und West in die damals zum Glück noch surreale Floskel einstimmten, von deutschem Boden dürfe nie wieder Krieg ausgehen? Dieser Pazifismus hat mit der Achtung vor dem Leben sicher nicht mehr zu tun als die Sozialdemokratie mit festen Grundsätzen, aber es lebt ein furchtbares deutsches Sendungsbewusstsein darin fort, von dem für den Fall, dass es ernsthaft herausgefordert wird, Schlimmes befürchtet werden darf. Der Fall des R. zeigt beispielhaft, dass der Pazifismus in Deutschland oft nur die selbstgerechte Bemäntelung des patriotischen Stumpfsinns, eine beliebig dehn- und wandelbare Sekundärtugend ist, und mit denen, hat mal jemand festgestellt, kann man auch ein KZ betreiben.
 
Aber: Wie unter den deutschen Pazifisten heute die Anteile von patriotischen Lippenbekennern und Überzeugungstätern verteilt sind, ist schwer zu beurteilen. Es besteht die Möglichkeit, dass letztere eine Minderheit sind. Trotzdem merkwürdig, dass für einige das Interessanteste am propagandistisch flankierten staatlichen Auftragsmord zu sein scheint, jemand könnte nicht die richtigen Gründe haben, um dagegen zu sein.
 
Mit freundlicher Genehmigung von MV (33), der auch die Links im Text gefunden hat. Er lebt und arbeitet in Berlin und »behauptet eine prekäre Existenz als Lektor und Übersetzer.«
 

^^^                               H.o.m.e