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Interview Index - 18.10.2002
Totalitärer Geist gegen Terror
Der Bürgerrechtler, Autor und Rechtsanwalt Rolf Gössner über die Einschränkungen der Bürgerrechte seit dem 11. September, die Ineffizienz der »Sicherheitsgesetze« und die Folgen für Bürger und Demokratie.
krit: Inwiefern schränken Schilys "Anti-Terror"-Gesetze die Grundrechte ein?
Rolf Gössner: Diese Frage ist ganz schwer zu beantworten - einfach wegen der Fülle von Gesetzesänderungen, die Anfang dieses Jahres als sogenannte Sicherheitsgesetze in Kraft getreten sind, und wegen ihrer recht unterschiedlichen Auswirkungen. Die erweiterten Polizei- und Geheimdienstbefugnisse, die engere Zusammenarbeit der Sicherheitsorgane, die Erweiterung der Sicherheitsüberprüfungen in "lebens- und verteidigungswichtigen" Betrieben, die Ausdehnung der Telekommunikations-Überwachung, die Erfassung biometrischer Daten wie Finger- oder Handabdruck oder Gesichtsgeometrie in Ausweispapieren, die Ausdehnung des Anti-Terror-Instrumentariums auf ausländische Vereinigungen usw. - jede Maßnahme für sich genommen hat gravierende Auswirkungen auf die Substanz der Grund- und Freiheitsrechte. (1)
Doch beim Starren auf jede einzelne Maßnahme geht leicht der Überblick verloren und vor allem der Blick für die damit verbundenen Strukturveränderungen im Gefüge eines sich freiheitlich-demokratisch verstehenden Rechtsstaates. Der liberale Rechtspolitiker Burkhard Hirsch stellte Ende 2001 in der "Süddeutschen Zeitung" unter der Überschrift "Abschied vom Grundgesetz" nicht zu Unrecht die Frage, ob wir angesichts all dieser Gesetzesverschärfungen "ein demokratischer Rechtsstaat bleiben". Burkhard Hirsch jedenfalls bescheinigte dem berüchtigten "Otto-Katalog II" von Bundesinnenminister Schily (SPD) insgesamt Respektlosigkeit "vor Würde und Privatheit seiner Bürger" sowie "totalitären Geist".
Alles in allem: Es scheint, als befänden wir uns in einem nicht erklärten Ausnahmezustand, in dem die Kompetenzen und Befugnisse aller Sicherheitsorgane erweitert, die machtbegrenzenden Trennungslinien zwischen Polizei und Geheimdiensten aufgelöst werden, ganze Bevölkerungsgruppen zu Sicherheitsrisiken mutieren, ganze Lebensbereiche mit problematischen Rasterfahndungen überzogen werden - und ganz nebenbei wird eine der ältesten rechtsstaatlichen Errungenschaften, die Unschuldsvermutung, aufgegeben, die Beweislast umgekehrt. Das sind Merkmale eines autoritären Sicherheitsstaates, in dem Rechtssicherheit und Vertrauen verloren gehen, Verunsicherung und Verängstigung gedeihen.
»Es scheint, als befänden wir uns in einem nicht erklärten Ausnahmezustand«
Die neuen "Sicherheitsgesetze" sind weitgehend ineffizient, schaffen kaum mehr Sicherheit, gefährden aber die Freiheitsrechte umso mehr - so die bittere Bilanz seit ihrem Inkrafttreten. Man könnte meinen, Osama bin Laden und El Qaida hätten Einfluss genommen auf die Gesetzgebung in diesem Lande.
krit: Wie erklären Sie sich, dass ausgerechnet eine rot-grüne Regierung so umfangreiche "Sicherheitsgesetze" verabschiedet. War der 11. September Schuld?
Rolf Gössner: Es ist tatsächlich schon erstaunlich, dass ausgerechnet eine Bundesregierung unter Beteiligung der "Grünen", die sich als "Bürgerrechtspartei" verstehen, die umfangreichsten "Sicherheitsgesetze" präsentierte, die in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte jemals auf einen Streich verabschiedet worden sind - ohne auch nur die Frage zu stellen, ob nicht die bereits geltenden Gesetze zur Bewältigung der Gefahren ausgereicht hätten. Erstaunlich auch, dass die "Otto-Kataloge" in Windeseile und unter weitgehender Missachtung des Parlaments zustande kamen.
Das alles wäre ohne die Terroranschläge in den USA am 11.9.2001 nicht passiert. Ohne diese unvorstellbaren Ereignisse wären so umfangreiche "Anti-Terror"-Pakete mit Sicherheit nicht verabschiedet worden, schon gar nicht unter Rot-grün. Nachdem nun aber diese Regierung mit einer solchen Tragödie konfrontiert worden ist, musste sie handeln. Denn es gehört selbstverständlich zu den Aufgaben und Pflichten von Regierung und Sicherheitsbehörden, die Mittäter und Hintermänner der Terror-Anschläge zu ermitteln und mit geeigneten, aber angemessenen Maßnahmen für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu sorgen. Doch in einer solch aufgeheizten Situation der Angst und Unsicherheit, wie wir sie im Herbst letzten Jahres erlebten, wäre es eigentlich Pflicht der Regierung gewesen, Realitätssinn und Augenmaß zu bewahren, statt dem Schrei nach dem "starken Staat" mit symbolischer Politik zu folgen, lang gehegte Pläne gleich paketweise aus den Schubladen der Macht zu zerren und mit Anti-Terror-Etiketten zu bekleben.
Nur in ganz wenigen Fällen haben die Sicherheitspolitiker bisher plausibel dargelegt, dass ihre Gesetzes- änderungen nicht nur Ausgeburt populistischen Aktionismus' sind, sondern tatsächlich zur Bekämpfung dieser Art von Terrorismus tauglich sein können. Dazu gehören Maßnahmen zur Erhöhung der Flugsicherheit, zur Kontrolle internationaler Geldströme, möglicherweise auch die Abschaffung des Religionsprivilegs im Vereinsrecht. Doch vollkommen unverdächtige Selbstmord-Attentäter hätten auch mit den darüber hinaus gehenden Regelungen wohl kaum enttarnt werden können. Auch die vielgepriesene, aber höchst problematische "Rasterfahndung", in die seit Ende letzten Jahres Abertausende von Menschen involviert worden sind, blieben weitgehend ohne Ermittlungsergebnisse. (2) Wir haben es letztlich mit Verhaltensweisen zu tun, die auch mit einer noch so verfeinerten Präventionsstrategie nicht ohne weiteres erfasst werden können, es sei denn durch Kommissar Zufall - oder aber mit polizeistaatlicher Willkür.
»Die neue rot-grüne Bundesregierung hätte also allen Grund zum Umsteuern und zur Wiedergutmachung«
Im übrigen war schon nach Ablösung der Kohl-Regierung 1998, anders als von vielen bürgerrechtsbewegten Menschen erhofft, ein wirkliches Umdenken und Umsteuern in der Innenpolitik unterblieben - was sich gerade nach dem 11.9. besonderes rächen musste. Die Hinterlassenschaft der rechtsliberalen Politik wurde seinerzeit nicht auf den Prüfstand gestellt. Mit Ausnahme der Kronzeugen-Regelung wurde kein einziges noch so bürgerrechtsschädliches Repressionsinstrument revidiert. Stattdessen baute die rot-grüne Bundesregierung auf der von ihrer Vorgängerin geschaffenen Grundlage den Sicherheitsstaat weiter aus - zu Lasten der Bürgerrechte und rechtsstaatlicher Prinzipien.
Die neue rot-grüne Bundesregierung hätte also allen Grund zum Umsteuern und zur Wiedergutmachung. Doch die bisherigen Koalitionsverhandlungen geben insoweit leider nur wenig Hoffnung.
krit: Im Hinblick auf Demokratie und Grundrechte: Was ist grundsätzlich falsch im Kopf von Schily und Beckstein und warum merkt der Bürger nichts?
Rolf Gössner: Schwierige Frage, denn in die Köpfe der beiden Law-and-order-Männer kann ich nicht schauen. Und das ist auch besser so. Doch eine Erkenntnis muss gegen die herrschende Sicherheitspolitik immer wieder eingewandt werden: In keiner Gesellschaft gibt es einen absoluten Schutz vor Gefahren und Gewalt - schon gar nicht in einer hochtechnisierten Risikogesellschaft und auch nicht in einer liberalen und offenen Demokratie; und schon gar nicht vor "Selbstmord-Attentätern". Es grenzt meines Erachtens an Volksverdummung, wenn die herrschende Sicherheitspolitik gerade diese Omnipotenz suggeriert, wenn sie so tut, als könnten die Bürger mit der drastischen Einschränkung von Bürgerrechten tatsächlich vor Terror geschützt werden. Derweil wird die staatliche Hochrüstung selbst zu einer Gefahr für die Bürger und ihre Grundrechte und der Sicherheitsminister gerät selbst zum Sicherheitsrisiko. Statt der Polizei immer neue Befugnisse zuzumuten, sollten die bestehenden Vollzugsdefizite abgebaut werden - zumal die Polizei angesichts der faktischen Allzuständigkeit, die ihr von der Sicherheitspolitik aufgebürdet wird, längst heillos überfordert ist. Selbst die Gewerkschaft der Polizei (GdP) warnte eindringlich vor dieser Art von "Sicherheitspolitik".

Könnte es also nicht sein, dass die sicherheitspolitischen Reaktionen auf die Terroranschläge weit größeren, nachhaltigeren Schaden an Demokratie und Freiheit anrichten, als es die Anschläge selbst vermochten? Denn das Streben nach totaler Sicherheit birgt totalitäre Züge. Es kann zerstören, was es zu schützen vorgibt: die Freiheit. Das geht hierzulande alles seinen "rechtsstaatlichen" Gang, weshalb die Bürgerinnen und Bürger davon so wenig bemerken. Deshalb tut Aufklärung so not - eine mühsame, manchmal undankbare Beschäftigung, der ich jedoch weiterhin gerne nachkomme.
krit: In Ihrem Redebeitrag Angriff auf die Freiheitsrechte (3) auf der ATTAC-Demo in Köln am 14. September sagten Sie, dass die "Terrorismus-Definition" der EU so weit gefasst sei, dass selbst ziviler Ungehorsam unter Terrorismusverdacht fallen könne. Wie das?
Rolf Gössner: Tatsächlich treibt der Gegenterror auch auf europäischer Ebene seltsame Blüten: Bereits Ende September 2001 wurde in Windeseile eine einheitliche Terrorismus-Definition der EU ausgearbeitet (Rahmenentscheidung Art. 3 09/01): Danach soll jeder Mitgliedsstaat Maßnahmen ergreifen, um "absichtlich durch einen Einzelnen oder eine Gruppe gegen einen Staat, dessen Einrichtungen oder Bevölkerung begangene" Straftaten als "terroristische Taten" mit bestimmten Mindeststrafen zu ahnden. Voraussetzung: Die Taten müssen mit der Absicht begangen werden, die "politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Strukturen" eines Landes "zu bedrohen und stark zu beeinträchtigen oder zu zerstören". Neben Mord, Entführung oder Erpressung soll dazu schon die widerrechtliche Inbesitznahme oder Beschädigung öffentlicher Einrichtungen, Transportmittel, Infrastrukturen oder öffentlichen Eigentums ausreichen; oder aber die Beeinträchtigung oder Verhinderung bzw. Unterbrechung der Versorgung mit Wasser, Elektrizität oder anderen wichtigen Ressourcen, oder "Angriffe durch Verwendung eines Informationssystems" oder auch nur die Drohung mit einer dieser Straftaten. Auch "urban violence", also "Akte städtischer Gewalt" sollen darunter fallen. Diese Terrorismusdefinition ist so weit gefasst, das meint auch die britische Bürgerrechtsorganisation "Statewatch", dass darunter selbst militante Straßenproteste wie die in Genua (2001) fallen könnten oder Formen des zivilen Ungehorsams wie Sitzblockaden vor Atomkraftwerken oder politische Streiks in Versorgungsbetrieben - denn damit würde ja die Versorgung mit wichtigen Ressourcen wie Elektrizität oder Wasser zumindest beeinträchtigt oder unterbrochen. Der "Gegenterror" macht also auch vor der Anti-Atom-Bewegung, vor gewerkschaftlichen Streiks oder dem Globalisierungsprotest nicht halt, der schon vor dem 11.9. mit Ausreiseverboten, Pass-Beschlagnahmen, Meldeauflagen und Polizeiaufsicht stark behindert worden ist. (4)
Einige europäische Staaten und Menschenrechts- organisationen protestierten gegen diese ungeheuerliche Definition. Tatsächlich wurde daraufhin der flexiblen Terrorismusdefinition in der Präambel ein Passus vorangestellt, der eher einem frommen Wunsch entspringen dürfte: Dort heißt es nun beschwichtigend, dass die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit bei der Anwendung der Terrorismusdefinition nicht geschmälert oder behindert werden dürfe!
krit: Volkes Stimme nimmt die Einschränkung von Bürgerrechten gar nicht wahr, hier und dort ist auch von linker Panikmache zu hören. Weitverbreitet ist das Argument, wer ein reines Gewissen habe, würde vom Staat schon nichts fürchten müssen. Was entgegnen Sie auf solche (Vor-)Urteile ganz konkret?
Rolf Gössner: Vielen Menschen scheint tatsächlich nicht bewusst, dass die Gesetzesverschärfungen alle in der Bundesrepublik lebenden Menschen betreffen. Sie meinen, es träfe allenfalls Randgruppen und vor allem ausländische Mitbürger. Es ist zwar richtig, dass Migrantinnen und Migranten, die schon bislang am intensivsten überwachte Bevölkerungsgruppe, die repressiven Auswirkungen am meisten zu spüren bekommen. Aber von vielen Maßnahmen werden alle betroffen sein. Ein Beispiel ist die geplante Erfassung biometrischer Daten in Ausweispapieren, also von körperlichen Merkmalen wie Finger- und Handabdruck oder Gesichtsgeometrie (Kinnbreite, Augenabstand, Stirnhöhe). Alle, die einen Pass oder Personalausweis beantragen, müssen sich künftig biometrisch vermessen lassen, sobald vom Gesetzgeber festgelegt worden ist, welches biometrische Daten Verwendung finden soll.
»Aber von vielen Maßnahmen werden alle betroffen sein«
Gegen Fälschungssicherheit und sichere Identifizierung ist aus Datenschutzsicht prinzipiell nichts einzuwenden - mal abgesehen davon, dass auch damit unauffällige "Schläfer" mit im Ausland ausgestellten Personalpapieren wohl nicht entdeckt, die Attentate nicht verhindert worden wären. Doch mit der biometrischen Totalerfassung der Bevölkerung würde bundesweit eine digitale Ausgangsbasis entstehen, die für weitreichende polizeiliche Überwachungsmaßnahmen und Abgleichsverfahren nutzbar wäre: So könnten etwa Tatortspuren elektronisch mit den biometrischen Referenzdaten verglichen werden, so dass auch völlig unbescholtene Personen in den Kreis der Tatverdächtigen geraten, die dann gegenüber den Ermittlern ihre Unschuld nachzuweisen hätten. Durch eine solche Vorratsspeicherung würden alle erfassten Menschen zu potentiellen Sicherheitsrisiken erklärt - eine grandiose Misstrauenserklärung an die Bevölkerung. Mit gezielter Terrorismusbekämpfung hat dies nichts mehr zu tun.
krit: Was kann und sollte der Bürger tun, um sich für seine Grundrechte einzusetzen, hier und heute?
Rolf Gössner: Ich bin tatsächlich erstaunt, dass sich die Menschen in diesem Land - anders als in Zeiten der Volkszählung in den 80er Jahren - das alles gefallen lassen. Und ich frage mich immer wieder, warum sich so wenig Widerstand regt, obwohl die "Anti-Terror"-Gesetze weit gravierendere Auswirkungen zeitigen werden, als seinerzeit die vergleichsweise harmlose Volkszählung.
Zunächst, so denke ich, sollten sich die Menschen schlau machen über ihre eigenen Rechte, um sich gegen staatliche Eingriffe besser zur Wehr setzen und ihre Rechtsposition auch durchsetzen zu können. Sie sollten einen selbstbewussten Umgang mit den staatlichen Gewalten, mit Polizei, Justiz und Geheimdiensten, erlernen, (5) aber auch Solidarität mit denjenigen, die am meisten unter den neuen Gesetzen leiden werden, die zu den eigentlichen Verlierern des staatlichen "Anti-Terror-Kampfes" zählen: die Migrantinnen und Migranten.
Aber auch politisch-kollektives Engagement tut not, um den Boden für notwendige Veränderungen und bürgerrechtliche Verbesserungen zu bereiten - am sinnvollsten über Bürgerinitiativen oder Bürgerrechtsorganisationen wie Humanistische Union, Komitee für Grundrechte und Demokratie oder die Internationale Liga für Menschenrechte. Um sich einen Überblick über die Bürgerrechtsarbeit in der Bundesrepublik zu verschaffen, sei der jährlich erscheinende "Grundrechte-Report" empfohlen, in dem die Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland untersucht wird (Rowohlt-Verlag). Darin finden sich auch die wichtigsten Bürger- und Menschenrechts- organisationen in Deutschland, zum Teil mit Kurzporträts.
»Politisch-kollektives Engagement tut not«
Gerade eine solche Zeit, wie wir sie gegenwärtig durchleben, braucht Antworten auf die Frage, wie sich eine Gesellschaft verändert, in der präventiv ganze Lebensbereiche und Arbeitswelten durchgerastert werden, in der Bürger und einzelne Bevölkerungsgruppen zu potentiellen Sicherheitsrisiken mutieren. Diese Zeit braucht die fundierte Formulierung von Einwänden gegen den Abbau der Bürger- und Freiheitsrechte, gegen die Umstrukturierung des liberal-demokratischen Rechtsstaates in einen autoritären Sicherheitsstaat.
krit: Seit vielen Jahren kämpfen Sie für den Erhalt demokratischer Rechte, werden aber gleichzeitig seit 30 Jahren (!) vom Verfassungsschutz geheimdienstlich überwacht. Was haben Sie verbrochen und wie leben Sie damit?
Rolf Gössner: Die Überwachung geht nun schon ins dreiunddreißigste Jahr. Was ich verbrochen habe? Zunächst vermutete ich nur, vom "Bundesamt für Verfassungsschutz" (BfV) wegen meiner Redakteurstätigkeit bei "Geheim" (6) überwacht zu werden. Das Amt stufte diese geheimdienstkritische Zeitschrift, die bereits seit 1985 erscheint, in ihrem Jahresbericht 1994 plötzlich als "linksextremistisch" ein. Daraufhin habe ich beantragt, Auskunft über meine gespeicherten Daten zu erhalten. Ich bekam eine vierseitige Antwort mit einer Auflistung von personenbezogenen Daten seit 1970. Es sind Informationen über eine gewisse Auswahl meiner Publikationen, die man überall nachlesen kann, und über öffentliche Veranstaltungen, auf denen ich referiert habe. Es sind solche Fakten aufgeführt, mit denen mir der Kontakt zu bestimmten Publikationsorganen und Veranstaltern zum Vorwurf gemacht wird - also eine Art "Kontaktschuld".
Das läuft nach einem sogenannten Verkartungsplan (7) aus Zeiten des Kalten Krieges, eine Art interner Dienstvorschrift mit dem Verschlusssachen-Stempel "VS-Nur für den Dienstgebrauch", die es meines Wissens immer noch gibt und aus der ersichtlich wird, wer warum wann und wie lange mit seinen personenbezogenen Daten gespeichert wird. Dabei geht es auch um Multiplikatoren: Journalisten, Anwälte, Politiker, die Kontakte zu "verdächtigen" Politikbereichen unterhalten. Besonders interessiert den Verfassungsschutz offenbar, wenn solche Personen Kontakte zu - wie es der Verfassungsschutz gerne nennt - "linksextremistisch beeinflussten" Gruppen haben. "Linksextremistische Beeinflussung" - das ist das Einfallstor, um solche Gruppen oder Publikationen einschließlich ihrer "Kontakte" geheimdienstlich auszuforschen.
Und so kommt es, dass sich auch ein Publizist und Rechtsanwalt, der sich intensiv und kritisch mit Polizei und Geheimdiensten beschäftigt, in diesem Land verdächtig macht. Wie sich unter staatlicher Beobachtung in diesen beiden Berufen überhaupt noch vernünftig arbeiten lässt, ob der Informantenschutz oder das Mandatsgeheimnis noch gewährleistet werden können, das sind brisante Fragen, solange die Gefahr besteht, dass Recherchen observiert, Telefonate abgehört, Mandate ausgeforscht oder V-Leute in Veranstaltungen platziert werden.
krit: Vielen Dank für das Interview!
Anmerkungen
1 S. dazu meine Aufsätze, u.a.: Der ganz normale Ausnahmezustand, in: Forum Wissenschaft 1/2002, S. 38 ff; in: Geheim 2/2002; Die neuen "Anti-Terror"-Gesetze, in: Widerspruch (Zürich) 42/2002, S. 51 ff.
2 Vgl. dazu: Gössner, Computergestützter Generalverdacht. Die Rasterfahndungen nach "Schläfern" halten einer bürgerrechtlichen Überprüfung kaum Stand, in: vorgänge 3/2002, S. 41 ff.
3 Dokumentiert in der Ost-West-Wochenzeitung Freitag (Berlin) v. 20.09.2002.
4 Vgl. dazu: Gössner, Reisefreiheit 2001, in: Ossietzky 15/2001, S. 505 ff. Residenzpflicht für politische Oppositionelle. Interview mit Rolf Gössner, in: Junge Welt v. 27./28.10.2001, S. 4 f., in: ak-analyse & kritik v. 22.11.2001
5 Das ist auch das Anliegen meines Buches "Erste Rechts-Hilfe" (Göttingen 1999), das Auskunft darüber gibt, wie man sich (rechtlich) gegen staatliche Eingriffe zur Wehr setzen kann.
6 Redaktion "Geheim" z.H. Michael Opperskalski/Ingo Niebel, Postfach 270324, 50509 Köln. Infos: 0221 - 28 39 995. E-Mail; Probeexemplare: via E-Mail. Ein Internet-Auftritt wird gerade vorbereitet.
7 Vgl.: Rolf Gössner: Risikoprofile. Die "Verkartung" des "inneren Feindes". In: ders.: Widerstand gegen die Staatsgewalt. Handbuch zur Verteidigung der Bürgerrechte, S. 42 - 55. Hamburg: Konkret Literatur Verlag 1988.
Über den Autor:
Dr. Rolf Gössner,
Rechtsanwalt, Publizist und parlamentarischer Berater auf Bundes- und Länderebene. Referent zahlreicher Veranstaltungen im gesamten Bundesgebiet. Gössner war Sachverständiger zum 1. "Anti-Terror-Paket" vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages (Nov. 2001) sowie Verfasser eines öffentlichen Aufrufs "Zeit zum Widerspruch", mit dem er Mitte Oktober 2001 die öffentliche Kritik an den "Sicherheitsgesetzen" anzufachen suchte. Als Mitglied der Jury zur Vergabe des BigBrotherAward hielt er im Oktober 2001 die "Laudatio" anlässlich der Verleihung des Negativpreises an Bundesinnenminister Otto Schily.
Gössner ist Mitherausgeber der Zweiwochenschrift für Politik/Wirtschaft/Kultur "Ossietzky". Seine Texte erscheinen u.a. in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Die Woche, Forum Wissenschaft, Frankfurter Rundschau, Geheim, Freitag, Kritische Justiz, Neue Kriminalpolitik, Neues Deutschland, die tageszeitung (taz), vorgänge, Widerspruch (Zürich).
Gössner war Mitautor des mittlerweile "legendären" Bestsellers "Der Apparat - Ermittlungen in Sachen Polizei (zus. mit Uwe Herzog; Kiepenheuer & Witsch, Köln 1984 - vergriffen), ein Buch, das Anfang der 80er Jahre für Furore sorgte. Seither hat er weitere zehn Bücher geschrieben bzw. herausgeben.
Buchpublikationen aus den letzten Jahren (Auswahl):
· Mythos Sicherheit - Der hilflose Schrei nach dem starken Staat, Nomos-Verlag, Baden-Baden 1995 (Hg.)
· Polizei im Zwielicht - Gerät der Apparat außer Kontrolle? (Mit Oliver Neß), Campus-Verlag, Frankfurt/M.-New York 1996 (vergriffen)
· Die vergessenen Justizopfer des Kalten Kriegs. Verdrängung im Westen - Abrechnung mit dem Osten? Aufbau-Verlag, Berlin 1998 (vergriffen)
· Erste Rechts-Hilfe - Rechts- und Verhaltenstipps im Umgang mit Polizei, Justiz und Geheimdiensten, Verlag Die Werkstatt, Göttingen 1999
· "BigBrother" & Co. - Der moderne Überwachungsstaat in der Informationsgesellschaft, Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2000.
17.11.2002 - Fragen von Ralph Segert
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