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H.o.m.e


 


 
P o l i t T e x t e  |  Textur  |  29 10 2001
 
Jens Renner
Der Aufstand der Gekränkten
 
Der Spiegel enthüllt den Antifa-"Wahn" der 68er
 
Die Revolte von 1968 sei nichts als eine "jugendliche Massenpsychose" gewesen, erklärte der sozialdemokratische Altkanzler Helmut Schmidt Anfang des Jahres, und der Focus (12/2001) machte sich diese Interpretation gern zu eigen. Einige Monate später legt der Spiegel (35/2001) nach, indem er Schmidts These variiert und teilweise zuspitzt: Bei der Konfrontation der 68er mit den alten Nazis und ihrer Warnung vor einem neuen Faschismus handle es sich um "Proteste gegen ein Phantom", denen eine "fast wahnhafte Verkennung der Wirklichkeit" zu Grund gelegen habe.
 
Um das "Hitler-Trauma von 1968" zu erklären, verpflichtete das Magazin einen Bewegungsveteranen: den Alt-SDSler und ehemaligen Funktionär des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW), Gerd Koenen.
 
Koenen hat sich als Spiegel-Autor geradezu aufgedrängt. In seinem im Frühjahr erschienenen Buch "Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967- 1977" hat er die Thesen ausführlich entwickelt, die er nun auf sechs reich bebilderten Spiegel-Seiten zusammenfasst. Wer die Kürze der Illustrierten-Version dem Autor als mildernden Umstand anrechnen möchte, muss wissen, dass die Langfassung kaum differenzierter ausgefallen ist. Historiker Koenen psychologisiert durchgängig, weil es ihm - und der Spiegel-Redaktion - darum geht, "wahnhafte" Trugbilder zu erklären. Seine Kernthese: Nicht nur das Erschrecken über die Verbrechen der Eltern- und Großelterngeneration, die im Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 eindringlich dokumentiert wurden, habe die Aktivistinnen und Aktivisten der APO zu einer "wütenden Distanzierung" von den Älteren gedrängt. Hinzu gekommen sei eine Art psychischer Defekt: "Sie (die Älteren, die Eltern) hatten uns das schließlich eingebrockt. Ihretwegen waren wir genötigt, uns ewig zu rechtfertigen, standen wir nicht nur als die Verlierer zweier Weltkriege, sondern als die Verbrecher der Weltgeschichte da. Moralische Empörung und narzisstische Kränkung flossen zusammen."
 
Die Verstörten aber verwandelten die Kränkung in ein "moralisches Negativkapital" und leiteten aus der Identifikation mit den Nazi-Opfern einen "neudeutschen Avantgardismus" ab. Als Höhepunkt - und Abschluss - der Verirrung erscheint Koenen der Mord an Hanns Martin Schleyer. Den hat zwar die RAF zu verantworten, gleichzeitig aber im Sinne der gesamten APO an dem Altnazi und "Boss der Bosse" als "Vatermord" zelebriert.
 
Zwei Alt-Nazis repräsentieren die BRD
In Wirklichkeit, belehrt uns Koenen, beruhten Antifaschismus und Linksradikalismus auf einem fatalen Missverständnis: Die BRD sei Erbin des NS-Regimes, was sich nicht zuletzt in den personellen Kontinuitäten zwischen den alten und den neuen Eliten zeige. Diese Kontinuitäten hatten für die Mobilisierung gegen das "Establishment" in der Tat eine große Bedeutung. Wie auch nicht? Bundespräsident und damit oberster Repräsentant der BRD war zwischen 1959 und 1969 Heinrich Lübke (CDU), der zwar nicht - wie die DDR-Propaganda behauptete - "KZ-Baumeister" gewesen war. In Peenemünde, wo Hitlers "Wunderwaffe" produziert werden sollte, trug er aber als oberster Bauleiter von 1943 bis 1945 die Verantwortung für den Einsatz von KZ-Häftlingen und "Ostarbeitern", die aus der Sowjetunion und Polen verschleppt worden waren.
 
Während der zunehmend senile Lübke in seiner zweiten Amtszeit kaum noch ernst genommen wurde, war ein anderer Altnazi ganz offensichtlich auf der Höhe seiner Aufgaben: Kurt-Georg Kiesinger (CDU), der Kanzler der Ende 1966 installierten großen Koalition aus CDU/CSU und SPD. Kiesinger war NSDAP-Mitglied und stellvertretender Leiter der Rundfunkpolitischen Abteilung im Auswärtigen Amt gewesen. Im Juli 1968 als Zeuge in einem NS-Prozess vernommen, sagte er aus, er sei der NSDAP "weder aus Überzeugung noch aus Opportunismus" beigetreten. Zum Gegenstand des Prozesses, der Deportation und Ermordung bulgarischer Juden, erklärte er: "Er habe zwar etwa seit dem Jahr 1944 das Gefühl gehabt, dass mit den Juden nach ihrer Deportation etwas Schlimmes geschehe, jedoch weder aus amtlichen Quellen noch aus Unterlagen seiner Behörde irgendetwas über Vernichtungsaktionen von Juden erfahren." (1)
 
Nichts gewusst - das war die stereotype Ausrede einer ganzen Generation, als Aussage eines hohen politischen Beamten des NS-Regimes aber besonders unglaubwürdig. Dieser Mann stand nun an der Spitze einer Regierung, deren wichtigstes innenpolitisches Ziel die Durchsetzung der Notstandsgesetze war, um bei "inneren Unruhen" Grundrechte außer Kraft setzen zu können. Klarer hätte die Kampfansage an die außerparlamentarische Opposition (APO) nicht formuliert werden können. Dass die "kleine, radikale Minderheit" sich bedroht sah, war kein Verfolgungswahn, wie sich in den folgenden Jahren nicht nur bei den Mordanschlägen auf Benno Ohnesorg (2. Juni 1967) und Rudi Dutschke (11. April 1968) zeigte.
 
Vor allem in den ersten Monaten des Jahres 1968 gab es eine regelrechte Pogromhetze gegen "die Krawallmacher". Um Westberlin, gleichzeitig Frontstadt des Kalten Krieges und Hochburg der Revolte, für die rebellische Jugend zur verbotenen Stadt zu machen, verfuhren die Medien des Axel-Springer-Verlages nach dem von Mao geborgten Motto "Aus den Massen schöpfen, in die Massen hineintragen". Als die Parteien des Abgeordnetenhauses und der DGB in Westberlin, wenige Tage nach dem Vietnam-Kongress (17./18.2.1968), zur Gegenkundgebung aufriefen, versammelten sich 80.000 Menschen. Bild erhöhte nicht nur die Teilnehmerzahl auf 150.000, sondern zitierte auch genüsslich den auf Transparente gemalten "Berliner Witz gegen Krawall-Studenten". Kostprobe: "Lasst Bauarbeiter ruhig schaffen! Kein Geld für langbehaarte Affen!"; "Lieber tot als rot!"; "Dutschke raus aus Berlin!". Die härtesten Transparenttexte unterschlugen die Springer-Zeitungen allerdings, darunter Parolen wie "Dutschke Volksfeind Nummer eins", "Bei Adolf wäre das nicht passiert" oder "Politische Feinde ins KZ".
 
Dass in Westberlin "kein Platz" für Oppositionelle sei, gehörte zu den Leitmotiven von Pressekommentaren und Politikerreden. Als der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) am 21. Februar 1968 sagte: "Diese Stadt gehört nicht den Extremisten, sondern denen, die sie unter Entbehrungen wieder aufgebaut haben", wiederholte er fast wörtlich, was Springers BZ schon am 2. Juni 1967 geschrieben hatte: "Die Anständigen in dieser Stadt aber sind jene Massen der Berliner, die Berlin aufgebaut und Berlins Wirtschaft angekurbelt haben. Ihnen gehört die Stadt. Ihnen ganz allein."
 
"Anständige" machen Jagd auf "Extremisten"
Das war als Aufforderung zum Handeln gemeint und wurde auch so verstanden. Die APO sah sich nicht nur mit einer entfesselt knüppelnden Polizei konfrontiert, sondern wurde auch öfter von Zivilisten attackiert. Der CDU-Abgeordnete Jürgen Wohlrabe ("Übelkrähe") befehligte eine eigene Knüppelgarde, "anständige Berliner" zwangen Langhaarige in S-Bahn-Züge Richtung Ostberlin. Nach der Kundgebung am 21.2.1968 schlug der Mob mehr als 30 "verdächtige" Personen zusammen, und nur durch das Eingreifen der Polizei (!) konnte ein Lynchmord verhindert werden. Die Rettung des Verwaltungsangestellten Lutz-Dieter Mende, der fälschlich für Rudi Dutschke gehalten worden war, schilderte ein Polizeioffizier so: "Es war für uns eine ganz neue Erfahrung: Das war ja eine entmenschte Masse. Ich war gerade nach vorn gegangen, um die Lage zu erforschen, als mir der junge Mann entgegen gerannt kam. Er fiel mir um den Hals und stammelte: ,Um Gottes Willen, schützen Sie mich, die wollen mich totschlagen.` Hinter ihm her kamen an die tausend Leute, die johlten und riefen: ,Schlagt den Dutschke tot!` Ich bekam Schläge auf den Rücken, wir wurden zu Boden geworfen, die Menge war außer sich. Wir haben uns dann die letzten Meter bis zum Wagen irgendwie hingeschleppt. Ich konnte gerade noch die Tür aufreißen und den jungen Mann hineinstoßen. Die Leute wollten daraufhin den Mannschaftswagen umkippen, zwei von ihnen schlugen eine Scheibe ein. Die Menge brüllte: ,Lyncht ihn! Hängt ihn auf!`" (2)
 
Wenige Wochen danach wurde Rudi Dutschke dann tatsächlich Opfer eines Mordanschlages, an dessen Folgen er 1979 starb. Der Täter, Josef Bachmann, las regelmäßig Bild und Nationalzeitung, war aber in der Darstellung der Politiker natürlich ein "verwirrter Einzeltäter". Zehntausende in der gesamten BRD wussten es besser und reagierten mit militanten Angriffen auf Springers Verlagshäuser. Der Slogan "Heute Dutschke, morgen wir" hat sich zwar zum Glück nicht bewahrheitet. Die Bedrohung war aber real. Faschistoide Stimmungen gingen weit über die Anhängerschaft der NPD hinaus, die damals ihre größten Triumphe feierte; ihr Spitzenergebnis waren 9,8 Prozent in Baden-Württemberg.
 
Das alles ist Koenen, dem Zeitzeugen und Historiker, natürlich bekannt. Dennoch wischt er alle Hinweise auf eine faschistische Gefahr vom Tisch, indem er offensichtlich falsche Einschätzungen zur damaligen Lage zitiert: die Selbststilisierung mancher ProtestlerInnen als "neue Juden", die Gleichsetzung der Isolationshaft mit "Auschwitz", Ulrike Meinhofs unsägliches Gerede von "Israels Nazi-Faschismus", die häufig skandierte Demo-Parole "USA-SA-SS" und dergleichen mehr. Wer derlei gefährlichen Unfug mal richtig fand, hat allen Anlass, sich zu schämen. Koenen will aber mehr. Seine Zitatenauswahl soll zum einen zeigen, die APO hätte keine Ahnung gehabt, was Faschismus bedeutet. Sie suggeriert aber auch, die wahre faschistische Gefahr hätte von links gedroht - namentlich von den mit palästinensischen Organisationen kooperierenden bewaffneten Gruppen. In dieser "Symbiose" sieht Koenen "brachiale Versuche der Befreiung von der Last der deutschen Geschichte. Und die neue Freiheit musste sich gerade im Angriff auf diejenigen bewähren, die für die Kränkung des Selbstbildes als Deutsche sorgten: die Juden, die man jetzt nur als ,Zionisten` bezeichnete."
 
Demokratie in Zeiten der Krisenstäbe
Die alten Nazis erscheinen bei Koenen dagegen als harmlose Spießer: Opportunisten, die sich den Spielregeln der parlamentarischen Demokratie angepasst haben und vor allem nicht auffallen wollen. Was ja zum Teil stimmt. Aber eben nur zum Teil: Denn die Probe aufs Exempel blieb aus, weil die APO allzu schnell zusammenbrach, ihre Erben sich als leicht integrierbar erwiesen (wie die Jusos), keinen nennenswerten Einfluss gewannen (die legale radikale Linke) oder militärisch zerschlagen wurden (die bewaffneten Gruppen). Es ist Spekulation, muss aber mitgedacht werden, wenn es um die Frage einer faschistischen Gefahr in den Jahren 1968ff. geht: Was wäre geschehen, wenn die Bewegung den Staat und die von alten Nazis durchsetzten Eliten wirklich herausgefordert hätte? Ein faschistisches Potenzial in der Bevölkerung war unzweifelhaft vorhanden, in Westberlin nahm es zeitweise den Charakter einer Massenbewegung an. Aber da die APO seit Sommer 1968 auf dem Rückzug war, konnte man die Angelegenheit den Spezialisten überlassen: den Politikern und der Polizei, die Zuckerbrot und Peitsche bereit hielten. Viel Peitsche: eine Prozesswelle, Berufsverbote und Verbotsdrohungen, Aufrüstung der Polizei, Ausnahmegesetze und "Terrorismusbekämpfung" mittels Killfahndung und Hochsicherheitstrakten - wenig Zuckerbrot: die sozialliberale Koalition, eine Amnestie für "Demonstrationsstraftäter" und Willy Brandts uneingelöstes Versprechen "Wir wollen mehr Demokratie wagen".
 
Auf den Nazi-Gegner Willy Brandt folgte schon 1974 der Wehrmachts-Unteroffizier Helmut Schmidt. Dessen Leitlinie waren die berüchtigten deutschen Sekundärtugenden, "mit denen man auch ein KZ betreiben kann" (Oskar Lafontaine). Drei Jahre später ging Koenens "rotes Jahrzehnt" mit dem "deutschen Herbst" zu Ende: eine, wenn auch befristete Diktatur der Krisenstäbe und der Polizei, abermals begleitet und unterstützt von einer faschistoiden Massenstimmung. Anstatt den Verlauf der Ereignisse nachzuzeichnen, reiht Koenen besonders wirklichkeitsfremd erscheinende Zitate aneinander. Eine leichte Übung: Wörtlich genommen sind viele Texte von 1968 widerlegt, teils lächerlich und allenfalls noch als Zeitdokumente von Interesse. Das gilt aber viel mehr für die vermeintlich großen strategischen Würfe als für die Analysen der Gesellschaft, die man revolutionieren wollte.
 
Anmerkungen:
1) Wolfgang Kraushaar: "1968. Das Jahr das alles verändert hat". München (Piper) 1998, S. 204
2) zitiert in Michael Rütz: "Ihr müsst diesen Typen nur ins Gesicht sehen" (Klaus Schütz, SPD). APO Berlin 1966-1969. Frankfurt am Main (Zweitausendeins) 1980, S. 167

 
In der Reihe Rotbuch 3000 (Europäische Verlagsanstalt/Rotbuch Verlag, Hamburg) erscheint demnächst Jens Renners Buch "1968"; 96 Seiten, 14,80 DM
 
Zuerst erschienen in ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 454 am 27.09.2001. Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift ak.
 

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