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H.o.m.e


 


 
P o l i t T e x t e  |  Textur  |  05 11 2001
 

Martin Altmeyer
Nach dem Terror, vor dem Kreuzzug
 
Spekulationen über das Böse und seine Quellen
Ausgerechnet in ihrem Septemberheft befasst sich die Psyche mit der "Psychoanalyse menschlicher Destruktivität". Das Umschlagmotiv auf dem Deckblatt des Doppelhefts (9/10, 2001), das einige Tage vor dem monströsen Terrorangriff auf die USA erschienen ist, zeigt Francisco de Goyas Duell mit Knüppeln. Auf so gespenstische Weise aktuell waren die Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen noch nie. Wo alle Welt über das Böse spricht, beschäftigen sich die Autoren wieder einmal mit einer modernen Variation der alten Frage, ob die Aggression des Homo sapiens aus dem Inneren des Trieblebens kommt oder als Reaktion auf Frustration entsteht. Freud hatte bekanntlich 1920, unter dem Eindruck des ersten Weltkriegs, seine Hypothese vom Todestrieb entwickelt und damit für Aufruhr in der psychoanalytischen Welt gesorgt. Die meisten seiner Mitstreiter lehnten dieses dunkle Konzept ab. Sie favorisierten stattdessen die Frustrations-Aggressions-Hypothese, die in der Zunft auch heute noch mehrheitlich Zustimmung findet, freilich in angemessen elaborierter Form. Aggression wird nicht mehr als einfache Reaktion oder Abwehr verstanden, sie entstammt vielmehr komplexen psychosozialen Kontexten, einem frühen Trauma, einer gestörten Mutter-Kind-Beziehung, einer familiären Struktur, einer sozialen Pathologie, einem politischen oder interkulturellen Konflikt. Diese beiden Grundmuster bei der Erklärung menschlicher Destruktivität, trieb- oder frustrationsbedingt, findet man auch in den zeitdiagnostischen Reflexionen über die ebenso fürchterlichen wie furchterregenden Ereignisse des 11. September 2001: Todestrieb oder Umwelt, Aktion oder Reaktion, innen oder außen. Vom Zwischen ist, hier wie dort, weniger die Rede.
 
Das Böse ist wieder in der Welt
Wir haben das Böse gesehen, lautete der Tenor in der amerikanischen Öffentlichkeit, und um es zu bannen, wurde das Gute gleich mitbeschworen. Es stehe ein "monumentaler Kampf zwischen Gut und Böse" bevor, predigte kurz entschlossen der Präsident, dem ein paar Tage später in einer weiteren Rede der angekündigte Feldzug zu einem "Kreuzzug" verrutschte. Der Kampf gegen den Weltfeind werde bis zu seiner Auslöschung geführt. Wer immer wieder die Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers rasen sieht, wer das flammende Inferno in Manhattan vor Augen hat, wer nicht vergessen kann, wie die Monumentalbauten aus Stahl, Beton und Glas am Ende in sich zusammenstürzen, und wer an die Menschen denkt, die erschlagen und zerstückelt wurden, erstickten und verbrannten in dieser Hölle, der manche durch den Sprung in die Tiefe zu entkommen suchten – wie sollte der nicht das Böse wieder entdecken in diesem von Menschen geplanten Angriff auf andere Menschen, der alles überbietet, was wir außerhalb des Krieges je an Zerstörungswillen erlebt haben?
 
Aber auch Intellektuelle, die sonst für differenzierte Analysen bekannt sind, machen plötzlich diese Entdeckung. "Das Böse", behauptet Michael Rutschky in seinem ebenso betitelten Kommentar (FR, 15.9.01), komme aus dem Dunkeln, habe kein Gesicht, greife heimtückisch von hinten an; es liege jenseits aller Moral, auch der von Rittersagen und Westerngeschichten, bei denen sich die Waffenträger ins Gesicht sehen: Die "Formlosigkeit des Bösen", seine diffuse Gestalt des feigen Terrors, sie "frisst ... alle Codes und Formen auf". Ein Krebsgeschwür nannte es der Chefredakteur Europa des Wall Street Journal im sonntäglichen Presseklub; es müsse vollständig herausgeschnitten werden, wenn es nicht weitere Metastasen bilden solle. Im Begriff des Schurken und der "Schurkenstaaten" (rogue states) schwang noch die Bedeutung des Bösewichts mit, der gewiss böse ist, aber eben auch ein Wicht. Das nun entdeckte Böse ist frei von solchen semantischen Verharmlosungen, es ist das Böse "an sich", der Geist, der alles zersetzt, der Trieb, der alles zerstört.
 
Thomas Schmid (FAZ, 17.9.), unser Mitkämpfer aus der Revolte gegen die Übel der Welt, der während der 68er-Debatte im Frühjahr dieses Jahres noch im verklärenden Rückblick den intakten demokratischen Rechtsstaat gegen seine revolutionären Feinde verteidigt hatte, stellt ihn heute zur Disposition. Oder wie soll man es verstehen, wenn er den "Freunden des menschenfreundlichen Linksliberalismus" attestiert, "nicht wahrhaben (zu wollen), dass Situationen denkbar und wahrscheinlich sind, die Grenzen des Zulässigen für einen Moment zu überschreiten. Sie wollen nicht wahrhaben, dass der gute Satz, nie dürfe die Freiheit mit Mitteln jenseits des Rechtsstaats verteidigt werden, zuzeiten einen schalen Beiklang haben kann". Auch wenn Schmid vor der fundamentalistischen Terror-Falle warnt und gegen den "rechten" Ruf nach dem autoritären Staat anschreibt, der im Namen des Guten alttestamentarische Rache üben und das Böse bekriegen soll – er hält angesichts des gegenwärtigen Notstands die "linke" Befürchtung einer Aushöhlung der demokratischen Freiheiten für eine zivilreligiöse Zwangsvorstellung, die der Wehrhaftigkeit schadet und im Zweifelsfall dem Terror nützt. Der Terror, das ist der anthropologische Kern seiner Auffassung, ist "Teil der conditio humana, christlich gesprochen: der Erbsünde. Das Böse ist in der Welt, mit und ohne Globalisierung". Thomas Schmid weiß, welche Botschaft er schickt, wenn er seinen Kommentar unter die Überschrift "Die offene Gesellschaft und das Böse" stellt und damit den Titel einer Kampfschrift von Karl Popper paraphrasiert, welche freilich "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" hieß.
 
Die Feinde zu Zeiten Poppers waren noch erkennbar und zu lokalisieren, so wie das "Reich des Bösen", dem Ronald Reagan den finalen Krieg erklärt hatte. Das Böse in der Version des globalen Terrorismus hat kein Gesicht und fordert gerade deshalb zu seiner Dämonisierung heraus. Alle Versuche, den barbarischen Angriff auf die Zivilisation in den Rahmen politischer oder kultureller Konflikte, historischer oder aktueller Auseinandersetzungen zu stellen, liefen auf eine Exkulpierung der Täter hinaus, meinte Josef Joffe, Chefredakteur der liberalen Zeit (17.9.01); hier sei "das Böse schlechthin" am Werk gewesen, und es habe auch einen Namen: Ibn bin Laden und seine Terrororganisation. So wie im Golfkrieg Sadam Hussein der Satan war und während der Jugoslawienkriege Milosevic dämonisiert wurde, so ist jetzt der saudi-arabische Millionär in die Rolle des Bösen geschlüpft. Dass dieser Teufel in Menschengestalt – ein Geschöpf des amerikanischen Geheimdienstes im Übrigen – einmal gegen das vorherige "Reich des Bösen" eingesetzt worden war, als willkommener Bündnispartner der USA gegen die sowjetische Besatzung in Afghanistan, wer will es heute noch wissen. Auch die Taliban galten damals noch als ehrenwerte Freiheitskämpfer mit exotischem Turban und langem Bart.
 
Konversionserfahrungen unter Schockeinwirkung
Im Schock der traumatisierenden Bilderflut, im lähmenden Entsetzen über das Ausmaß der Katastrophe, im heiligen Erschrecken über den offenbar grenzenlosen Hass der terroristischen Täter bleibt der distanzierenden Vernunft wenig Raum. Bei dieser affektiven Mischung aus panischer Angst, unfassbarer Trauer und ohnmächtiger Wut arbeitet auch unser Verstand anders als in ruhigen Zeiten, und wir entdecken Einstellungen, die uns vorher fremd waren. Intellektuelle untersuchen öffentlich ihre innere Konfliktlage, befragen ihre Bereitschaft zum emotionalen Mitschwingen und überprüfen ihre Grundüberzeugungen.
 
Der Germanist und Stanford-Professor Hans-Ulrich Gumbrecht, der gerade erst die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hat, bekennt sich unter der Überschrift "Die Stunde der raren Empfindung" (FAZ, 15.9.) zu überwältigenden Gefühlen des Patriotismus, der nationalen Scham und der Rache ("die selbstironisch Wallungen zu nennen ich mir verbieten muss") und ist nur "wenig beunruhigt ..., aus der in Jahrzehnten eingeübten Selbstdistanz des Intellektuellen herauszutreten". Er sehnt sich angesichts der tiefen Demütigung seines neuen Vaterlandes nach "potenten Symbolen amerikanischer Jagdbomber" und einer "stahlharten" Antwort des amerikanischen Präsidenten, an dem er bisher die üblichen Zweifel hatte und an dessen Stelle er nun gerne Roosevelt oder Churchill sehen würde. Im Versuch, den Terroranschlag als Folge der Weltmachtpolitik der USA, ihres Supermacht-Gebarens, ihrer fehlenden Friedenspolitik zu verstehen, spürt er "das übliche Lüftlein der liberalen Larmoyanz", der er sich nun endlich zu entziehen entschlossen hat.
 
Wie zum Beweis dieses abschätzigen Urteils beschreibt Susan Sontag – in derselben Feuilletonausgabe der FAZ – den Mut der Attentäter, denen man angesichts der eigenen Todesbereitschaft Feigheit gerade nicht bescheinigen könne. Ihr scharfe Anklage gegen die patriotische Gleichschaltung der amerikanischen Öffentlichkeit wirkt tatsächlich larmoyant und ihre Einfühlung in den islamistischen Terror als "Konsequenz" der US-Politik beklemmend unangemessen. Aber ihre Diagnose eines Wirklichkeitsverlusts im Schockzustand trifft dennoch, ebenso wie ihre Warnung vor einer "starken" Antwort in einer Situation, in der "Stärke nicht alles ist, was Amerika jetzt zeigen muss". Charles Simic (FAZ, 17.9.01) der ihr in diesem Punkt Recht gibt, wirft der politischen Elite seines Landes vor, mit alttestamentarischer Vergeltungsrhetorik "die Rachsucht der Bevölkerung zu stimulieren" und eine Kriegsbereitschaft anzufachen, der weitere Unschuldige zum Opfer fallen werden. Aber was könnte eine angemessene Antwort sein, die weder nach dem Vorbild der Appeasement-Politik den Terror ermuntert noch in der Logik der Eskalation das Inferno zum Weltenbrand entfacht?
 
Niemand hat eine Antwort auf diese Frage, auch wenn es scheint (zumindest zum Zeitpunkt, an dem ich diesen Beitrag schreibe), dass es keinen aus Rache geborenen Vergeltungsschlag geben wird, sondern einen langen, umsichtig geplanten "Feldzug", wie die US-Regierung nicht müde wird zu beschwören. Aber ein Feldzug gegen was und gegen wen, wenn der Gegner so unbestimmt bleibt und als das Satanische selbst identifiziert ist?
 
Was ist das Böse und woher kommt es?
Die anspruchsvollste Antwort auf diese Frage hat bisher Hans Magnus Enzensberger versucht (FAZ, 18.9.01), der schon zu Zeiten des Golfkriegs die verschiedensten Formen der gesellschaftlichen Gewalt seinem sezierenden Blick unterzogen und eine universelle Bürgerkriegsmentalität ausgemacht hatte. Er vermutet im globalisierten Terrorismus eine besondere Erscheinungsform frei flottierender Aggression, die sich nicht nur gegen andere, sondern auch gegen sich selbst richte: die "Wiederkehr des Menschenopfers" auf der Höhe der postmodernen Zivilisation. Die Triebstruktur des terroristischen Selbstmordattentäters sei wenig unterschieden von der des mordenden Skinheads, des todessüchtigen Junkies, des narzisstisch gestörten Jugendlichen, der im Highschool-shooting das Licht der Öffentlichkeit sucht, um vor laufender Kamera zu sterben. All diesen Handlungen liege eine mörderische Selbstdestruktivität zugrunde, die zur Not auch ohne die höheren Weihen einer Ideologie auskomme. Der paranoide Angriff auf den anderen ziele im Grunde auf die eigene Vernichtung.
 
Die These, dass es sich bei der terroristischen Gewalt, genauso wie bei der angeblichen "Gewalt ohne Motiv", um eine triebhafte Tendenz handelt, den eigenen Ruin herbeizuführen, lässt sich kaum widerlegen, wenn man die Sache von ihrem Ende betrachtet. Bei den Attentätern, die die vier Flugzeuge zum Absturz brachten, ist das evident; ebenso bei den palästinensischen Tätern, die in Israel mit Sprengstoffwesten am Körper Kaffeehäuser in die Luft bomben. Dass es auch eine kollektive Neigung zur Selbstzerstörung gibt, die sich hinter der nach außen gerichteten Aggression verbirgt, lässt sich an vielen historischen Beispielen demonstrieren: Nazi-Deutschland unter Hitler, Kambodscha unter dem Pol-Pot-Regime, Irak unter dem von Saddam Hussein, Jugoslawien unter Milosevic. Enzensberger sieht hier einen "Stolz auf den eigenen Untergang" am Werk, den er auch im militanten Islamismus vermutet.
 
An diesem Punkt aber wird erkennbar, dass seine Analyse auch psychodynamisch zu kurz greift, indem sie bei der Autoaggression, beim Hang zur Selbstvernichtung endet. Wenn es einen Stolz auf den finalen Suizid gibt – und es gibt ihn, im Fall der Selbstmordattentäter ist er am triumphalen Jubel im eigenen Lager abzulesen, der auf den heroischen Märtyrer noch im Grab zurückfällt – dann ist die Destruktion mit einer ganz anderen seelischen Qualität legiert: dem Narzissmus. Vor der Selbstvernichtung steht die expansive Vorstellung von der eigenen Größe. Die Welt soll endlich anerkennen, wie großartig die eigene Ideologie, die eigene Religion, die eigene Kultur, die eigene Rasse sind, wie grandios das individuelle oder Kollektivselbst ist – wehe, wenn sie das nicht tut. Und sie soll die narzisstisch aufgeblähte Grandiosität umso dringender würdigen, je mehr eigene Zweifel daran sich bereits gebildet haben. Das in der islamischen Welt offenbar vorherrschende Gefühl, vom Westen erniedrigt und gedemütigt zu werden, ist deshalb so virulent, weil es auf ein Morgenland trifft, in welchem das Abendland längst Einzug gehalten hat. Aus dieser verhängnisvollen Mischung von Selbstzweifel, Kränkung und kompensatorischem Größenwahn ergibt sich nicht bloß die obsessive Vision vom Gottesstaat. Sie speist auch jene fatale Entwicklung, die in den mörderischen und selbstmörderischen Terrorismus führt. Es ist so etwas wie eine in gigantische Dimensionen gesteigerte, kollektive narzisstische Wut, die wir in den terroristischen Manifestationen des Bösen erleben.
 
Die frei flottierende Aggressivität und Selbstdestruktivität, die ubiquitäre Gewalttätigkeit, die martialische Angriffslust, eine allgemeine Bereitschaft zur Attacke und Gegenattacke, hinter der man die bösartige Dynamik narzisstischer Kränkbarkeit und Wut vermuten kann, sie kommen weder aus den triebhaften Tiefen des Innenlebens noch vom Außen der Frustration, sondern aus dem Zwischen des menschlichen Zusammenlebens in Gruppen und Gesellschaften, zwischen Völkern und Kulturen. Wenn in dieser Richtung die Diagnose des bedrohlich anschwellenden Schreckens zu suchen ist, dann besteht die Therapie in der wechselseitigen Anerkennung, in der Regelung von Nähe und Distanz, in der gerechten Verteilung von Ressourcen und Lebenschancen, in Prozessen der kommunikativen Verständigung über Zustand und Zukunft unserer Welt.
 
Diese Einsichten werden allerdings nicht verhindern, dass Amerika die seinem nationalen Stolz zugefügte Demütigung wird kompensieren wollen und nach einem Ausgleich für die eigenen Opfer verlangt. Gewiss, die Schuldigen müssen gefunden, vor Gericht gestellt, verurteilt und bestraft werden. Mit jedem unschuldigen Opfer auf der anderen Seite jedoch wird dem Bösen Nachschub verschafft.
 
Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift Kommune. Zuerst erschienen in Kommune, Ausgabe 10/2001.
 
Martin Altmeyer, geboren 1948, ist klinischer Psychologe und Supervisor, lebt in Frankfurt am Main. Sein aktuelles Buch heißt Narzissmus und Objekt.
 

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