|
H.o.m.e
|
|
P o l i t T e x t e | Interview | 01 11 2001
Thomas Deichmann
Das Foto vom KZ
Thomas Deichmann, geb. 1962, arbeitet als freier Journalist und ist Chefredakteur von NOVO, »dem Magazin für Zukunftsdenker«. Aktuelles Buch zusammen mit Thilo Spahl: Das populäre Lexikon der Gentechnik. - Foto (c): Steve Forrest
KriT: Ich kann mich erinnern, wie mich jenes Foto, das ein KZ im Bosnien suggerieren
sollte, beeinflusst hatte in meiner Meinung über den Bosnienkrieg. Sie haben Jahre später
dieses Foto als bewusste Täuschung entlarvt. Wie kam es dazu?
Thomas Deichmann: Im Herbst 1996 wurde ich gebeten, beim Kriegsverbrechertribunal in Den
Haag als "expert witness" auszusagen. Es drehte sich um den ersten Tribunalsprozess gegen
den bosnischen Serben Dusko Tadic. Ich arbeitete für die Verteidigung - den
niederländischen Anwalt Wladimiroff. Ich sollte dem Gericht erklären, wie oft der
Tadic-Fall seit seiner Festnahme 1994 von den deutschen Medien aufgegriffen worden war -
insbesondere den TV-Medien - und wie oft sie Bilder des Angeklagten gezeigt hatten. Mein
Bericht war eine lange Liste mit Zahlen und Fakten.
Als ich dafür recherchierte, gab mir Wladimiroff eine Kiste mit Videobändern, die ich
auswerten sollte. Darunter waren auch Videobänder, die - was ich erst später erfuhr -
Wladimiroff von der Anklagevertretung ausgehändigt bekommen hatte: unbearbeitetes
Filmmaterial, so genannte "rushes", des britischen Nachrichtensenders ITN. Ein ITN-Team
hatte während des bosnischen Bürgerkriegs im August 1992 die Lager Omarska und Trnopolje
besucht. In Trnopolje entstand das berühmte Bild eines abgemagerten Mannes hinter
Stacheldraht, welches Assoziationen mit dem Holocaust weckte. Diese ITN-Aufnahmen waren
Beweismaterial im Tadic-Prozess. Für meine Arbeit spielten sie keine Rolle, aber ich
fertigte mir Kopien an.
Nach meiner Aussage vor dem Tribunal studierte ich die Bänder sorgfältig und bemerkte eine
Reihe von Details, die der gängigen Interpretation des Stacheldraht-Bildes widersprachen.
Zum Beispiel sieht man, dass sich die Reporter zwischen lauter Schubkarren und anderen
Gerätschaften bewegen und dass der Stacheldraht an den Metallpfosten auf der Seite
angebracht ist, wo auch die gefilmten Männer stehen. Das und mehr deutete darauf hin, dass
die Reporter auf einer Art Bauhof standen und selbst umzäunt waren, nicht aber das Lager
und die gefilmten Muslime. In einem Interview sagte mir dann auch Wladimiroff auf Grundlage
eigener Recherchen vor Ort, es hätte keinen Zaun um das Lager Trnopolje herum gegeben - und
eine Stacheldrahteinzäunung nur an einer Straßengabelung in unmittelbarer Nachbarschaft
dieses Flüchtlings- und Transitcamps. Daraufhin begann ich intensive Recherchen, reiste
schließlich auch nach Bosnien und inspizierte den Ort, führte Interviews usw. Meine
Vermutung wurde 100%ig bestätigt. Daraufhin schrieb ich eine Reportage und publizierte sie
in mehreren Ländern. Meine Artikel und ein Teil der internationalen Reaktionen darauf sind
im Internet verfügbar.
KriT: Wie beurteilen sie diesen Fall im Hinblick auf Medien und Manipulation in der
westlichen Welt.
Thomas Deichmann: Dieses Stacheldrahtbild war ohne Zweifel die folgenreichste und
schlimmste Medientäuschung des Bosnienkriegs - in ihrer Wirkung vergleichbar mit der
Propagandalüge vor Beginn des Golfkriegs, als Kuwaitis behaupteten, irakische Soldaten
würden Frühgeborene aus den Brutkästen nehmen und auf den Fußboden schleudern. Die
ITN-Aufnahme musste als Schein-Beweis dafür herhalten, dass die Serben einen neuen
Holocaust organisierten und Konzen- trations- und Vernichtungslager wie Auschwitz betrieben.
»Dieses Stacheldrahtbild war ohne Zweifel die folgenreichste und
schlimmste Medientäuschung des Bosnienkriegs«
Diese Vergleiche waren haltlos, aber sie hatten eine enorme Wirkung auf die Politik und die
öffentliche Meinung. Eine Reihe von Politikern und Journalisten schien förmlich auf solche
Bilder zu warten, um ihre Parteinahme im bosnischen Bürgerkrieg moralisch untermauern zu
können.
Seit der Ausstrahlung der ITN-Aufnahmen am 6. August 1992 gab es in der
Balkanberichterstattung kaum noch Grautöne: Bis auf sehr wenige Ausnahmen wurde immer in
die gleiche antiserbische Kerbe geschlagen. Hierfür setzten die ITN-Aufnahmen den denkbar
schlechtesten Maßstab. So folgten auf die KZ-Vorwürfe alsbald Spekulationen über
Massenver- gewaltigungslager und Kinderverbrennungen - die Moralisierung konnte nur so noch
überhöht werden. In einigen Kommentaren war sogar davon die Rede, dass die SS-Schergen im
Vergleich zu den Serben harmlos waren.
KriT: Das britische Monatsmagazin LM unterlag im März 2000 einer Verleumdungsklage, die
der Nachrichtensender "Independent Television News" (ITN) jedem androhte, der den
Wahrheitsgehalt des Bildes anzweifelte. Das Urteil brachte den LM-Herausgebern den
Bankrott. Wie konnte es zu diesem Urteil kommen? Es steht doch zweifelsfrei fest, dass das
Foto eine bewusste Täuschung der Öffentlichkeit war.
Thomas Deichmann: Bereits nach vier Tagen der Beweisführung war klar, dass die
ITN-Reporter, genau so wie in meinen Artikeln geschildert, von einem kleinen Grundstück
aus, das mit Stacheldraht umzäunt war, herausfilmten. Aber darum ging es in dem Prozess
nicht vorrangig. Das Kernvorwurf der ITN-Anklage lautete, mein Artikel und eine
LM-Presseerklärung zu seinem Erscheinen im Februar 1997 hätten suggeriert, dass die
ITN-Reporter 1992 absichtlich die Welt hinters Licht geführt hatten. Nicht die
Medientäuschung an sich war im Zentrum, sondern der vermeintliche Vorwurf der absichtlichen
Produktion eines Fakes.
Um eine solch Anklage stricken zu können, hatte ITN sich der berüchtigten englischen
"libel laws" bedient. Nicht nur die
LM-Herausgeberin, sondern auch der Chefredakteur und der Verlag sollten in den Ruin
prozessiert werden. Diese Ehrschutzgesetze sind in England als Zensurgesetze verschrien.
Die Beweislast ist beispielsweise umgedreht, der Angeklagte muss seine Unschuld beweisen.
Die Verfahrensvorbereitungen und die Prozesse vor dem High Court sind zudem immens teuer
und es gibt keinerlei Prozesskostenhilfe. Bei "Libel"-Klagen kommt es nur selten zu
Gerichtsverfahren, weil der Angeklagte vorher oft Bankrott geht oder, um das zu Vermeiden,
eine Einigung anstrebt - auch wenn er unschuldig ist.
LM hatte eine zunächst eine Chance, den Prozess unter Berufung auf einen "fair comment" zu
gewinnen. Dazu hätte dem Gericht bewiesen werden müssen, dass mein Artikel und meine
Schilderung der Stacheldrahtplatzierung korrekt sind. Das war, wie gesagt, kein Problem,
aber das wussten auch die ITN-Anwälte. Deshalb wurde einige Monaten nach der ersten
Anklageerhebung die Anklage um den Vorwurf "böswillig" erweitert. LM wurde nunmehr
vorgeworfen, aus böswilliger verleumderischer Absicht meinen Artikel publiziert zu haben
mit dem Ziel, ITN zu schaden. Dadurch entfiel laut Gesetz die Verteidigungsstrategie auf
"fair comment". LM hätte also, um den Prozess zu gewinnen, der Jury und dem Richter beweisen müssen, dass
die ITN-Reporter absichtlich eine Medientäuschung produziert hatten. Das war unmöglich. Wie will man fremde Gedanken beweisen - zumal fünf Jahre ins
Land gestrichen waren? Immer wenn es im Zeugenstand brenzlig wurde, konnten sich die
ITN-Leute an nichts mehr erinnern. Etwa 20 Zeugen beteuerten für ITN, dass 1992 alles hoch
professionell und mit rechten Dingen zugegangen sei. Erschwert wurde die Verteidigung noch
dadurch, dass vor Prozessbeginn plötzlich ein wichtiges Videoband im ITN-Archiv verschwand.
Und dank des "libel laws" wurden sogar Zeugen der Verteidigung aus dem Verfahren
ausgeschlossen - zum Beispiel John Simpson vom BBC. Nur der LM-Chefredakteur Mike Hume und
ich als Autor des umstrittenen Artikels wurden als Zeugen der Verteidigung zugelassen. LM
hatte also keine Chance, diesen Prozess zu gewinnen. Das habe ich auch im Detail in einem
Artikel geschildert.
KriT: Das Nachrichtenteam, das das Foto gemacht hatte, hat bis heute nicht die falsche
Interpretation des Fotos zurückgewiesen. Warum täuschen Journalisten bewusst die
Öffentlichkeit? Ist es Ruhmsucht, Zynismus, Angst vor Zivilcourage, Anpassung?
Thomas Deichmann: Die Medienhysterie während des Bosnienkriegs hatte sicher mehrere
Gründe. Einer ist das harte Nachrichtengeschäft. Um hier erfolgreich zu sein, müssen am
laufenden Band möglichst exklusive Geschichten produziert werden. Redaktionen und
Journalisten sind enorm unter Druck, zumal sie heute auch wahnsinnig schnell operieren
müssen. Darunter kann die Qualität des Journalismus leiden. Aber das muss nicht sein.
Schlechtere Qualität von Berichterstattung wird in der Medienwelt allzu gerne auf solche
"technischen" Faktoren geschoben. Das Problem liegt wohl etwas tiefer: Die Medien fungieren
heute mehr denn je als politischer Orientierungsgeber und Wertevermittler. Dadurch hat sich
auch das journalistische Selbstverständnis vieler Kollegen und Redaktionen geändert. Früher
war es oberstes Prinzip, möglichst Distanz zu bewahren und objektiv zu bleiben. Heute ist
es schon fast normal, Farbe zu bekennen und Partei zu ergreifen - für das, was gemeinhin
als das "Gute" betrachtet wird. Der Kriegsjournalismus hat sich vor diesem Hintergrund
stark gewandelt. Sobald ein neuer Krisenherd ausgemacht wird, sehen wir weinende Frauen und
Kinder und wir bekommen im Grunde nichts erklärende Schwarz-Weiß-Bilder präsentiert. Es
wird moralisiert und im gleichen Atemzug wird eine irgendwie geartete rettende Intervention
des Westens angemahnt.
»Dem Medienkonsumenten wird selbständiges Beurteilen erschwert wenn
nicht gar verunmöglicht.«
Hintergrund dieser Entwicklung ist, was gemeinhin als Politikverdrossenheit bezeichnet
wird. Die Parteien haben an Glaubwürdigkeit und Integrationsvermögen eingebüßt, die Medien
haben gewissermaßen das dadurch entstandene Vakuum gefüllt. Krisenberichterstattung ähnelt
deshalb heute oft der Arbeit von NGOs. Das erleben wir auch jetzt gerade wieder. Leider
wird das mittlerweile in weiten Kreisen als positiv betrachtet. Aber diese Art von
Kampagnenjournalismus neigt dazu, die zu vermittelnde Botschaft wichtiger zu nehmen als die
tatsächliche Faktenlage. Dem Medienkonsumenten wird selbständiges Beurteilen erschwert wenn
nicht gar verunmöglicht.
KriT: War dieser Trend auch 1992 bei Beginn des Bosnienkriegs zu Gange?
Thomas Deichmann: Am Beginn des Bosnienkriegs gab es in Medienkreisen eine große
Unzufriedenheit mit der westlichen Politik, die, teils zu Recht, als widersprüchlich und
konfliktschürend betrachtet wurde. Da versuchten einige Medienvertreter das Ruder der
Außenpolitik selbst in die Hand zu nehmen: Horrende Übertreibungen und tendenziöse Berichte
machten die Runde, die Geschichten um KZs und dergleichen gehörten dazu. Die Absicht war,
den Westen zu einer entschiedenen militärischen Intervention in Bosnien zu bewegen. Was
immer man davon halten mag: Es wurde und wird viel zu wenig darüber nachgedacht, welche
Folgen solch eine journalistische Herangehensweise für einen demokratischen
Meinungsbildungsprozess hat und wie es die Medien verändert. Ich habe diesbezüglich einmal
vom Ende des klassischen Journalismus gesprochen.
KriT: Sie beobachten sicher die Berichterstattung über den WTC-Anschlag und den Krieg in
Afghanistan. Was fällt Ihnen auf, auch mit Blick auf die Öffentlich-Rechtlichen?
Thomas Deichmann: Die Qualitätsunterschiede zwischen den Öffentlich-Rechtlichen und den
Privaten sind in den letzten Jahren dahin geschmolzen. Das ist ja eigentlich auch kein
Wunder, denn man darf die Medienwelt nicht mystifizieren. Was in den Medien geboten wird,
ist im Grunde ein Spiegelbild der Gesellschaft. Die Privaten verkörpern soziale Trends nur
etwas klarer - und brutaler. Diese degenerierten Reportagesendungen bei den Privaten z.B.
treiben einfach nur alles auf die Spitze - die Vereinzelung der Leute, die einhergehende
Verunsicherung und Frustration, das Misstrauen gegenüber sich selbst und anderen, die
Suchsucht nach irgendwelchem Halt. Aber das ist auch insofern ein Spiegel sozialer Trends,
dass diese Sendungen wie eine Karikatur der Wirklichkeit daherkommen und deshalb auch gar
nicht richtig ernst genommen werden. Aus diesem Grund haben die als seriöser empfundenen
Öffentlich-Rechtlichen sicher einen größeren Einfluss auf das gesellschaftliche Klima.
Das Problem ist: Heute fehlt es an allen Ecken und Enden an Klarheit und an glaubhaften
Zukunftsvisionen. Deshalb sind unabhängige Geister auch in den Medien sehr selten geworden.
Der Mainstream dominiert: im Kosovo-Konflikt übernimmt man erst mal unhinterfragt das
Nato-Vokabular über "Kollateralschäden" und die Kriegslügen Scharpings wie die vom
"serbischen Hufeisenplan". Heute werden die US-Truppen, die die Reste Afghanistans in
Schutt und Asche legen, als "Befreier" bezeichnet, als hätte irgendjemand vor Ort um diese
Art von "Befreiung" gebeten. Und die obskure "Nord-Allianz" wurde sofort hofiert, nachdem
der Pentagon das Stichwort gab. Es dauerte keine 24 Stunden, da lobten die ersten
Redaktionen die Männer der "Nord-Allianz", wie toll sie im Vergleich zu den Taliban mit
ihren Frauen umgehen.
»CNN ist zwar oft kaum
auszuhalten, aber bei Ereignissen mir internationaler Bedeutung unschlagbar, weil man
erfährt, wie das US-Establishment tickt.«
Die Medien wursteln mit, unabhängige Fragen tauchen leider meist erst dann auf, wenn der
Zug längst abgefahren ist. Natürlich gibt es noch zahlreiche Kollegen, die hervorragende
Arbeit machen und von Anfang an auch kritische Fragen stellen möchten. Und man muss
anmerken, dass es auch die dritten Programme, Phoenix, 3sat und Arte gibt - die zählen auch zu den
Öffentlich-Rechtlichen und da sieht man zum Teil sehr gute Hintergrundreportagen. Aber
reden Sie mal mit investigativen TV-Journalisten, wie schwer es heute ist, bei den
Öffentlich-Rechtlichen und bei den Privaten gute Sendezeiten für anspruchsvolle Geschichten
zu bekommen.
Nach dem WTC-Anschlag habe ich übrigens - wie auch bei Beginn des Nato-Krieges gegen
Jugoslawien - die ersten Tage wechselweise N-TV und CNN geschaut. N-TV ist mir sehr
sympathisch, weil die Redaktion immer sehr darum bemüht ist, ohne irgendwelche Moralduselei
auszukommen und Distanz zum Geschehen zu bewahren. Dort habe ich auch schon kurz nach dem
WTC-Anschlag sehr informative Sendungen über die Taliban gesehen. CNN ist zwar oft kaum
auszuhalten, aber bei Ereignissen mir internationaler Bedeutung unschlagbar, weil man
erfährt, wie das US-Establishment tickt. Diese Kombination finde ich oft auch deshalb sehr
interessant, weil unterschiedliche politische Akzentuierungen in Europa und den USA
deutlich werden.
KriT: Ziehen nicht auch die Öffentlich-Rechtlichen mit Ihrem täglichen
Schlagzeilen-Journalismus den unmündigen Bürger heran?
Thomas Deichmann: Sicher gibt es diesen Trend hin zum Schlagzeilen- und
Sensations-Journalismus auch bei ARD und ZDF. Schauen Sie sich an, was aus den großen
Politikmagazine in ARD und ZDF geworden ist: bis auf wenige Ausnahmen ist das typisches
Infotainment. Die neuen Wissenschafts- oder, noch deutlicher, die Reportermagazine lassen
sich offenbar nur noch vom Zeitgeist treiben. Die Leute sind verängstigt, also schauen wir
mal, wie wir dieses Gefühl bedienen können. Unter solchen Fragen laufen ganz sicher keine
Redaktions- konferenzen, aber die Ergebnisse sehen so aus. Erhellendes bringen diese neuen
Formate nur selten.
Oft stehen heute auch heldenhafte Erlebnisse der Reporter über dem eigentlichen Thema.
Aber welchen Nachrichtenwert hat z.B. eine 3-minütige Reportage - ich glaube es war in den
Tagesthemen - bei der gezeigt wird, wie ein Fernsehteam in den afghanischen Bergen
hausiert: ohne fließend Wasser, Strom oder Matratzen. Sicher: die Kollegen haben dort einen
schweren Stand, die Wichtigkeit ihres Einsatzes und ihre professionelle Integrität möchte
ich in keinster Weise in Abrede stellen. Aber wo bitte liegt hier der Nachrichtengehalt?
Eine Meldung wie: "Unsere Leute vor Ort wissen leider noch weniger als wir in Hamburg, weil
sie nicht einmal einen Internetanschluss haben", hätte genügt. Solche Berichterstattung
deutet darauf hin, dass Redaktionen einerseits selbst orientierunglos sind, andererseits
ihre heutige gesellschaftliche Rolle anders empfinden als früher - Nachrichtenübermittlung
ist längst nicht mehr alles.
Unterm Strich würde ich sagen, dass die von mir monierte Form dieses moralisierenden
Kampagnenjournalismus für das vermeintlich "Gute" vor allem bei der ARD aber auch beim ZDF
stärker ausgeprägt ist als bei den Privaten. Das liegt sicher daran, dass beide Anstalten
per Definition einen gesellschaftlichen Auftrag haben und in dieses politische Vakuum, das
Parteien hinterlassen haben, sehr bereitwillig hinein gewachsen sind. Die Privaten
versuchen sich zwar auch in dieser Rolle, aber sie schaffen das längst nicht so glaubwürdig.
KriT: Ist der "Fall Wickert" ein Ausdruck eines starken Anpassungsdruckes auf Journalisten
oder ist es mit dem Aushalten von politischen Wahrheiten in Deutschland schlecht bestellt,
wenn von vielen Verantwortlichen in den Medien und der Politik ein Vergleich der
Denkstrukturen von Bush und Osama bin Laden als Skandal aufgefasst wird?
Thomas Deichmann: Dieser Skandal hat zwei Seiten. Sie haben recht: an der Schelte gegen
Wickert kam zum Ausdruck, dass es hierzulande nur eine sehr unterentwickelte Streitkultur
gibt. Wenige Leute halten es aus, wenn jemand gegen den Strom schwimmt. Wickerts Äußerung
war ja sogar noch vorsichtig - eine wie ich meine zugespitzte aber durchaus wohl tuende
Anregung, zu einem Zeitpunkt, wo man eigentlich nichts über die Hintergründe des
Terroranschlags vom 11. September wusste, einmal tief Luft zu holen und die Dämonisierung
der Taliban für einen Moment zu hinterfagen. Dafür gibt es gute Gründe - die früheren
Verstrickungen der Taliban mit dem CIA z.B. sind ja keine Erfindung. Aber die Reaktionen
gegen Wickert waren typisch: statt einen anderen Blick zuzulassen, verzog man sich in die
Schützengräben. Aber in umgekehrter Richtung passiert das leider genauso.
In den USA und bei den meisten unserer europäischen Nachbarn gibt es ein stärkeres
Selbstbewusstsein in Politik und Medien und man weiß es dort auch noch mehr zu schätzen,
dass ein offener und kontroverser Diskurs zur Klärung und vernünftigen Meinungsbildung
beitragen kann. Deshalb habe ich es in den letzen Jahren immer als wesentlich einfacher
empfunden, meine eigenen zum Teil sehr kontroversen Texte im Ausland unterzubringen. Für
meine Reportage über die besagte ITN-Täuschung z.B. habe ich bei renommierten Zeitungen in
Österreich, Belgien, Schweden, der Schweiz und den Niederlanden sofort Abnehmer gefunden.
Die haben meine Geschichte überprüft und kamen zum Schluss, sie sei gut und wichtig genug,
um sie zu drucken. Hierzulande wollte keiner die Geschichte haben, deshalb landete sie in
Novo. Ich kam mir vor, als würde ich warmes Bier verkaufen wollen. Meine Erfahrung
bestätigt, dass hier lieber schnell die Schoten dichtgemacht werden, wenn es heikel wird.
Der so genannte "Wickert-Skandal" hat aber auch eine andere Seite. Wickert ist nämlich ein
Beispiel dafür, dass Kommentare und Nachrichtenjournalismus immer mehr miteinander verwoben
werden. Das ist schlecht, weil der Medienkonsument dadurch zum Teil sehr subtil manipuliert
werden kann. N-TV trennt das sauberer, auch Anne Will von den Tagesthemen ist mir da lieber
als Wickert. Wolf von Lojewski vom Heute Journal ist in dieser Hinsicht vorbildlich - aber
er ist eben auch ein Journalist der alten Schule. Gefährlich wird's, wenn solche
Bemerkungen wie von Wickert im Nachrichtengeschäft überhand nehmen. Die gehören in
Kommentare und dafür gibt es ja auch in den Tagesthemen genügend Raum. Leider werden aber
auch die immer vorsichtiger. Einige allzu kritische Redakteure haben dort schon Redeverbot
bekommen.
KriT: Was denken Sie, wenn liberale Zeitungen wie beispielsweise die ZEIT und die
Süddeutsche den Angriffskrieg der USA rechtfertigen? Welche Mechanismen wirken in den
Redaktionen, wenn Journalisten wider besseren Wissens kritiklos, reißerisch und anbiedernd
kommentieren und berichten?
Thomas Deichmann: Sicher ist es zum Teil erschreckend, wie schnell sich einige Redaktionen
mit dem Luftkrieg angefreundet haben. Aber ich denke nicht, dass Ihre Bezeichnungen
"reisserisch" und "anbiedernd" passend sind. Es gibt wohl auch keinen Journalisten im Land,
der sich als unkritisch bezeichnen würde.
Es gibt wohl andere Gründe für die breite Kriegsunterstützung. Einige davon habe ich
bereits angedeutet. Hinzu kommt, dass man auch anerkennen muss, dass der Terroranschlag vom
11. September ein selten brutaler Akt gegen unschuldige Menschen war und von einem wie auch
immer organisierten Gemeinwesen nicht einfach so hingenommen werden kann. Diesen zum
Fatalismus neigenden Pazifismus von heute halte ich jedenfalls auch für unpassend. Was
nicht heißt, dass ich den US-Krieg gegen Afghanistan nur eine Sekunde gutheißen würde. Ich
denke, die Ursachen solch nihilistischen Terrors sind auch oder vielleicht sogar vorrangig
in der westlichen Zivilisation zu suchen. Darin spiegelt sich in abscheulicher Weise die
Orientierungslosigkeit, der Wertverfall und die zunehmende Dekadenz der westlichen
Gesellschaften. Dieser Terror hat jedenfalls rein gar nichts mit den klassischen
Befreiungsbewegungen zu tun. Die Attentäter kamen nicht aus der afghanischen Wüste oder dem
Gazastreifen, sondern das waren Söhne reicher Saudis. Sie studierten in Hamburg und London.
Das sollte uns zu Denken geben.
»Die alten Rechts-Links-Schablonen taugen
längst nichts mehr zum Verständnis der Welt.«
Die Militärschläge sind ein Desaster. Dabei geht es den westlichen Eliten in ihrer eigenen
Ratlosigkeit um Selbstfindung und um die Demonstration einer neuen Mission, die sie mit dem
Ende des Kalten Krieges verloren haben. Mit Terrorbekämpfung hat das nur wenig zu tun. Dabei reiten die Politiker die Welt immer tiefer in Krieg und Chaos - das können wir
seit Jahren beobachten. Wo ist die versprochene Friedensdividende? In der kommenden Ausgabe
von Novo (Nr.55/56) werden wir diese Zusammenhänge näher erläutern. Wir dokumentieren auch
ein längeres Gespräch mit dem Philosophen Slavoj Zizek, der zu dieser Fragestellung
interessante Beobachtungen machte.
Die aktuellen Entwicklungen sind ohne Zweifel sehr gefährlich und ich würde mir wünschen,
dass Intellektuelle und Journalisten endlich aufhörten, die vermeintliche Gegenposition
sogleich reflexartig ins Abseits zu stellen. Die alten Rechts-Links-Schablonen taugen
längst nichts mehr zum Verständnis der Welt. Machen wir uns doch nichts vor: Niemand kann
heute sagen, wo die Reise hingeht, aber die meisten von uns haben ein sehr dumpfes Gefühl
in der Magengegend. In meinen Augen sind heute mehr denn je neue Fragestellungen und
analytische Schärfe gefragt. Dazu benötigt es auch Dampfablassen und, so weit das geht,
Aufeinanderzugehen aller, die weiterhin auf das emanzipatorische Potenzial einer freien
Gesellschaft bauen. Das sagen wir in Novo aber nicht erst seit dem 11. September oder 7.
Oktober.
KriT: Sie sind Chefredakteur des Magazins NOVO, dass sich "gegen Zensur, Verbots- und
Ausgrenzungsdenken, Overprotectionism und Verhaltensregulierung" wendet. Wie ist das
Magazin entstanden und welche Resonanz erfährt es?
Thomas Deichmann: Unser Magazin existiert schon seit November 1992 und ist von einer Hand
voll Studenten gegründet worden, die der Auffassung waren, dass die so genannte "Linke" am
Ende war. Jedenfalls fanden wir dort keine überzeugenden Antworten auf unsere Fragen, wie
man sich konstruktiv und zukunftsweisend in die Gesellschaft einklinken könne. Wir haben
uns von Anfang an sehr kritisch mit der grünen Partei auseinandergesetzt, weil uns deren
bornierter Öko-Alarmismus und die ständigen Warnungen vor dem Weltuntergang auf die Nerven
gingen. Wir haben uns auch stark gegen die gesetzliche Diskriminierung von Ausländern
gerichtet und uns dabei nicht nur mit Regierungen, sondern auch mit der Antifa angelegt,
weil sie ebenso apokalyptisch ständig das Problem mit den Neonazis aufbauscht. Und schon
bevor wir mit Novo loslegten, haben wir die Wiedervereinigung Deutschlands, bzw. den
Kollaps des Ostblocks, positiv gesehen. Die Art und Weise, wie die Wiedervereinigung
vollzogen wurde haben wir kritisiert. Aber dass plötzlich alle möglichen linke
Gruppierungen dieses rückschrittliche System im Osten als verteidigungswürdig darstellten,
passte mit unserer Vorstellung von Fortschritt nicht überein. Man musste ja kein
Kapitalismusfan sein, um die DDR nicht zu mögen. So haben wir wohl rechts wie links unseres
Weges kaum ein Fettnäpfchen ausgelassen.
Vor ein paar Jahren haben wir das redaktionelle Konzept umgekrempelt, weil wir dachten,
dass die alten politischen Grabenkämpfe überhaupt keinen Sinn mehr machen. Wir haben eine
neue redaktionelle Linie entwickelt, die auch auf unserer Website steht.
Wir bemühen uns, in die aktuellen
Diskussionen klärend aber natürlich auch richtungsweisend einzugreifen. Die Resonanz ist
unterm Strich sehr positiv. Es gibt wohl großen Bedarf an Publikationen wie Novo. Das
Problem ist allerdings, dass das Magazin nicht genügend Geld abwirft, um es angemessen auf
dem Zeitschriftenmarkt platzieren zu können. Mit einer Auflage von 1500 Heften kommt man
nicht sehr weit. Aber das ändert sich hoffentlich bald.
KriT: Können Sie zuguterletzt unseren Lesern kurz kommentiert ein paar Surftipps über
kritischen Journalismus auf den Weg geben?
Thomas Deichmann: Interessante Artikel finde ich in fast jeder Ausgabe von Telepolis. Da werden neue Trends zumeist klug behandelt. Abonniert habe ich
außerdem die Monatszeitung Le Monde Diplomatique. Die ist zwar auch immer mehr Mainstream
und ich ärgere mich oft darüber, aber nirgendwo sonst kann man spannende investigative
Reportagen aus aller Welt lesen. Die Zeitung hat auch ein gutes Archiv auf der taz-Website. Besonders ans Herz legen möchte ich das britische Online-Magazin
Sp!ked. Meine LM-Freunde haben sich von ITN natürlich nicht
unterkriegen lassen. Ein paar Monate nach der Pleite haben sie diese freche Publikation ins
Leben gerufen, die ich sehr gerne lese.
KriT: Vielen Dank für das Interview.
Gefragt hat Ralph Segert.
|
|
|
|