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Mut und Profession

Claudia Klinger und Michael Charlier über das Publizieren und Arbeiten im Web.


 

KriT: Euer Gemeinschaftsprojekt Webwriting-Magazin, wie ist das entstanden und wohin soll die Reise gehen?

Claudia: Aus einem Mangel, wie so oft. Es gibt zwar einige tolle Webzines über Webdesign und sämtliche technischen Aspekte - aber wo werden die in einen weiteren Zusammenhang gestellt? Es gibt Moden, Trends und Strömungen, wie etwa der aktuelle Usability-Boom oder das effektverliebte "alles-in-Flash-Design" - wir greifen so etwas auf und stellen uns ganz dumm: Wie fühlt es sich an? Was kann man damit machen? Bereichert es oder macht es uns ärmer? Die Leserreaktionen sind sehr positiv, offensichtlich gibt es einen großen Mangel an Orientierung und Bewertung - mitten im Info-Overkill.

Michael und Claudia

Michael: Das Magazin soll ein Knoten im Netz werden, ein Ort, an dem man die Fäden aufnehmen kann, wenn es um das "Schreiben für das Netz" geht. Das Netz ist mehr als eine Ansammlung von Behältern für beliebigen "content". Immer mehr Websites verzichten ganz auf Außenlinks oder schieben sie in Linklisten ab. Die Texte, die so ins Netz gestellt werden, sind dann oft nicht mehr als Schnipsel, oder meinetwegen auch Plakate, die in keinem Zusammenhang stehen. Unkommunikativ gegenüber Umfeld und Lesern. Wir wollen herausbekommen, wie man es besser macht, und es dann weitersagen.


KriT: Was ist Webwriting und wie ist das entstanden?

Michael: Als Journalist war ich es gewöhnt, daß es für jeden Publikationszweck und -ort eine eigene Schreibweise gab. Eine Nachricht ist kein Kommentar ist kein Feuilleton ist kein Fachartikel. Nur für das Netz schien es nichts Eigenes zu geben - bis ich dann den Hypertext für mich entdeckt habe. Hypertext als Mittel zur sachgerechten Gliederung und Aufbereitung von Informationen und Gedanken jeder Art, so daß man das auch unter den besonderen Bedingungen des Bildschirms lesen kann. Die zweite Entdeckung - und an der war Claudia nicht ganz unbeteiligt - war dann, daß es nicht nur die eher technische Verknüpfung per Link gibt, sondern daß das Netz auch beim Publishing soziale Verlinkungen und Interaktionen ermöglicht wie kein anderes Medium. Beim "Webwriting" geht es darum, die besonderen technischen Möglichkeiten der Darstellung und die sozialen Prozesse mitzudenken und mitzugestalten.

Claudia: Mir gefällt der Begriff "Webwriting" auch deshalb, weil er die Kulturtechnik "Schreiben" ins Zeitalter der Netze transformiert. Schreiben heißt, mit allen in der Sprache zur Verfügung stehenden Mitteln etwas mitteilen bzw. ausdrücken, nicht etwa nur "Worte buchstabieren", "Sätze bilden" oder "Grammatik anwenden". Im Web stehen nun weit mehr Mittel zur Verfügung: Interaktivität, multimediale Inhalte, Hyperlinks und vieles mehr. Der rote Faden zur Anwendung und Bewertung all dieser schönen Dinge ist aber nach wie vor das, was ausgedrückt werden soll, nicht bestimmte Techniken oder das Design, auch nicht der Autor oder die "User". Webwriting schließt "Schreiben fürs Web" ein, darüber hinaus begreifen wir es als alle Internet-Medien umfassende Netzkommunikation.


KriT: Ihr arbeitet seit 1995 im Internet. In diesen 6 Jahre ist viel passiert mit Euch und dem Internet. Wie bringt Ihr Eure Erfahrungen, Freuden und Enttäuschungen auf den berühmten Punkt?

Claudia: In den Kindertagen des Web erschien das Netz als Revolution menschlichen Miteinanders, die grundstürzende Änderungen mit sich bringen werde. Im noch ganz unkommerziellen Web waren ja auch alle erstmal nett zueinander, hilfsbereit, voller utopischer Ideen und Engagement. DAS war der eigentliche Net-Hype, nicht die banale Annahme späterer Jahre, das Netz sei eine neue Gelddruckmaschine. Beide Hoffnungen wurden mittlerweile enttäuscht: die erste in den Herzen, die zweite an der Börse. Wer aktiv dabei war, hat in kurzer Zeit ungeheuer viel gelernt, nicht nur in technischer Hinsicht. Für einen Abgesang aufs Internet gibt es trotzdem keinen Grund: als Kommunikationsmittel ist es allen vorherigen Möglichkeiten so überlegen wie das Auto dem Tretroller - man muß nur wissen, wohin man will und Fahren können wär' auch nicht schlecht.

Webwriting-Magazin

Michael: Enttäuscht werden kann nur, wer festgefügte Vorstellungen und Erwartungen hat. Das Netz entwickelt sich aber nach wie vor so schnell, daß ich gar nicht dazu komme, feste Vorstellungen zu entwickeln. Mit Spannung beobachte ich zur Zeit das Ringen zwischen den großen Konzernen der Unterhaltungsindustrie, die das Netz zu ihrem Vertriebskanal machen wollen, und den Millionen Usern, die dem spontan die Fähigkeit des Netzes zur Selbstorganisation entgegensetzen und über peer-to-peer-Netze kommunizieren, wie und was sie kommunizieren wollen.
Enttäuscht, aber mangels tiefgehender Täuschung nur ein bißchen, bin ich über die Dummheit, mit der auch eine rotgrüne Regierung die Selbstorganisation totreglementieren und alles, was in den Netzen neu ist, unter das Diktat des Alten stellen will.

 

KriT: Das Internet ernährt Euch. Wie beschreibt Ihr Euren Job?

Claudia: »Job« würde ich es nicht nennen, eher eine Profession: Anderen dabei helfen, das Netz für ihre Interessen zu nutzen, quer durch alle Netzmedien und Techniken. Die Jobs wechseln dabei öfter: Anfangs waren es hautpsächlich Artikel für Printmedien, dann kamen Webprojekte mit Beratung, Konzeptionierung, Design, Umsetzung, Promotion und Pflege. Die Entwicklung von Online-Seminaren für eine Universität hat mich auch lange beschäftigt. Im Moment erfinde ich meine Ökonomie wieder mal neu - ich möchte Net-Events planen und durchführen, Communities dienen bzw. Netzkommunikation moderieren, Highlights in bestehende Weblandschaften setzen und auch ganz gern Individuen beraten, die mit einer 0815-Homepage nicht ausreichend bedient sind. Sollte ich wieder nach Berlin ziehen, eröffnen sich auch im lokalen Netz interessante Perspektiven!

Michael: Ich arbeite immer noch einiges für Printmedien - wo ich fast ausschließlich über das Netz und seine Entwicklung schreibe. Im Netz - das heißt bei mir oft in einem Intranet - bringe ich eher ökonomische Zusammenhänge in webgemäße Form. Im Übrigen geht es mir wie Claudia: Es ist mal wieder eine Neustrukturierung angesagt. Ich habe in den letzten Jahren viel über Publizieren und Kommunikation im Netz gelernt - und wir werden mit dem Webwriting-Magazin noch eine Menge dazu lernen. Für dieses Wissen entsteht allmählich eine Nachfrage, daran will ich mich mit neuen Angeboten orientieren.


KriT: Ihr seid Freelancer des Internets. Welche Voraussetzungen muss man mitbringen, um das auszuhalten? *g* Was empfehlt Ihr Einsteigern?

Claudia: Man muß Freude an ständigen Veränderungen haben und laufend Neues lernen, ohne sich dabei zu verzetteln und in Nebensächlichkeiten zu verlieren. Für die alles beherrschende Mailkommunikation ist es wichtig, sich deutlich auszudrücken und andere Standpunkte zumindest tolerieren zu können. Ansonsten: Einsteigen, eigene Erfahrungen machen, Fehler riskieren - nicht ewig zögern, nur für die Schublade lernen und abwarten. Auf einer Webseite soll heute nicht mehr "under construction" stehen, aber wir selber und unsere Werke sind niemals perfekt, sondern immer im Auf- oder Umbau.

Michael: Lernbereitschaft und Neugier sind wirklich wichtiger als jede formale Qualifikation. Die eingesetzten Techniken und Verfahren - manchmals sind es auch nur die Moden - lösen sich in einem unglaublichen Tempo ab. Da muß man mithalten. Aber nicht, indem man alles mitmacht, sondern indem man sich eine eigene Position erarbeitet und von dieser Grundlage aus überlegt auswählt, was man selbst machen kann und machen will. Für alles andere gibt es das Netz und dort für jedes Spezialgebiet einen Kooperationspartner.


KriT: Zuguterletzt noch Eure heissesten Surftips, kurz kommentiert für unsere Leser. Wie heissen sie?

Claudia: Mal ehrlich: "Heiss" ist keine Eigenschaft, die ich von einer Website erwarte! ;-)
Gut gefallen hat mir in letzter Zeit Bubecs Webwelt: wunderbar individuelles Webdesign ohne High-Tech-Schnickschnack - und ganz im Dienst der Inhalte: Wie er zum Beispiel Afrika 'rüberbringt, klasse! Sehr gern besuche ich gelegentlich die SELFHTML Lounge: Ein ruhiger Ort, um die Seele baumeln zu lassen.

Michael: Eine der nützlichsten Seiten, die ich fast täglich aufsuche, ist Lawrence Lees "Tomalaks Realm" mit Links zu Webinformationen in der US-Presse. Dort lese ich oft heute das, was übermorgen bei Heise kommt.
Eine der abgedrehtesten Seiten, die mir in der letzten Zeit begegnet ist, ist die des Consortium of Collective Consciousness. Mit ihren Links führt sie mitten in die Cyber-Freak-Szene von San Francisco, Hight-Tech-Flower-Power mit wechselnden Anteilen von Selbstironie. Webchaos wie in den guten alten Zeiten. Scheint leider seit einiger Zeit nicht mehr gepflegt zu werden, und den Nachfolger, den es sicher gibt, habe ich noch nicht gefunden.

KriT: Vielen Dank für das inspirierende Interview. :-)

Webwriting Magazin


Eine interessante Antwort auf das Interview hat Stefan Münz im SelfHTML Lounge Forum gepostet. Claudia Klingers Antwort ließ nicht lange auf sich warten. ;-)



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